Cheikh Ahmed Al-Alawi – Maghrebinischer Sufi-Heiliger des 20. Jh.
Cheikh Ahmed Ibn Mustafa Al-Alawi, Gründer der Tariqa Alawiyya, lebte von 1869 bis 1934 im algerischen Mostaganem, eine Stadt der Gelehrten und Heiligen, die noch heute zahlreiche aktive Sufi-Orden und somit ein wichtiges kulturelles Erbe der Welt des Sufismus beherbergt. In jungem Alter war Al-Alawi aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage seiner Familie gezwungen arbeiten zu gehen. Er arbeitete zunächst als Flickschuster und widmete sich später dem Handel. Wie er selbst in seiner Autobiografie deutlich machte, besuchte er nie eine Schule. Er war demnach ein bemerkenswerter Autodidakt, der zu seinen Lebzeiten zahlreiche Werke zu Themen aus der Metaphysik, Philosophie und Theologie verfasste und von Gelehrten seiner Zeit hoch geachtet wurde. Sein Vater lehrte ihm den Koran bis zur Sure Al-Rahman. Als Al-Alawi 16 Jahre jung war, verstarb sein Vater. Al-Alawi war im Laufe seines Lebens mehrfach verheiratet und ebenso mehrfach geschieden. Kinder hinterließ er keine. Er lernte den Meister Cheikh Muhammad (Hamu) Al-Buzidi kennen, der ihn in die Lehre des Sufismus einführte und ihn in den Shâdiliyya-Darqawiyya-Orden einweihte. Schon bald war Al-Alawi ein verantwortungsbewusster Schüler, den Cheikh Muhammad Al-Buzidi gelegentlich beauftragte seine Schüler eigenständig zu führen. Als Cheikh Al-Buzidi am 27. Oktober 1909 aufgrund seines immer schlechter werdenden Gesundheitszustands verstarb, hatte er keinerlei Anweisungen für die Nachfolge hinterlassen. Seine Anhänger neigten Ahmed Al-Alawi zu, da dieser schon zu Lebzeiten des Cheikhs Al-Buzidi die Aufgaben des Cheikhs erfüllt hatte und in den Augen der Ordens-Anhänger für diese Funktion prädestiniert war. Da man sich dennoch über die Nachfolge zunächst nicht völlig einig war, beschlossen die Anhänger eine Woche zu warten und auf Visionen zu achten. Tatsächlich kamen eine ganze Reihe von Visionen zum Vorschein, die allesamt auf Ahmed Al-Alawi als Nachfolger des Cheikh Al-Buzidi deuteten. So geschah es, dass Al-Alawi der neue Cheikh des Ordens wurde und alle Anhänger ihm den Treueid leisteten. Er benannte den Orden von nun an in Shâdiliyya-Darqâwiyya-‘Alâwiyya um.
Zu seinen Lebzeiten führte Cheikh Al-Alawi mehrere Reisen durch, darunter Reisen nach Algier, Tunis, Tripolis, Istanbul, Mekka, Medina, Jerusalem, Damaskus und Paris. Zur Reise nach Paris schreibt Ludwig Schleßmann in seinem Werk Sufismus in Deutschland:[1]
„Alawi, der auch nach Frankreich kam und 1924 in Paris die große Moschee einweihte, fand noch nach seinem Tod bei europäischen Intellektuellen starke Beachtung.“
Dr. Martin Lings machte ihn in den Sechziger Jahren zum Thema seiner Doktorarbeit und brachte Teile dieser Arbeit schließlich als englisches Werk mit dem Namen A Sufi Saint of the Twentieth Century (Ein Sufi-Heiliger des zwanzigsten Jahrhunderts) heraus. Das Werk ist auch auf deutsch auf dem Büchermarkt zu finden. Darin zitiert Lings Dr. Carret, einen französischen Arzt, der Al-Alawi traf, wie folgt:[2]
„Schon bei meiner ersten Begegnung mit ihm hatte ich den Eindruck, mich in der Gegenwart eines außergewöhnlichen Menschen zu befinden. (…) Mein Erstaunen war so groß, dass ich einen Augenblick lang an der Türschwelle innehielt. (…) Der Cheikh sprach nie ein überflüssiges Wort. (…) Ich war meinerseits erstaunt über seine Aufgeschlossenheit, über seine Unvoreingenommenheit und Größe, mit der er die Dinge betrachtete.“
Wie kam es dazu, dass Europäer auf Cheikh Al-Alawi und seine Botschaft aufmerksam wurden? Nach dem Trauma des Ersten Weltkriegs fragten sich viele Menschen in Europa wie die Zukunft aussehen würde. Unsicherheit machte sich breit. Der Nationalismus verschärfte sich und es deutete sich eine neue Waffenaufrüstung am Horizont an. In diesem Zusammenhang wandten sich Intellektuelle und Künstler der Weisheit des Orients zu und kamen nach Algerien um den Cheikh Al-Alawi zu befragen. Sowohl in Europa als auch in den kolonisierten Ländern Afrikas trat man mit dem Cheikh Al-Alawi in Kontakt um einen neuen Weg zu suchen. Man hatte Hoffnung, dass die Menschen in Zukunft eine authentische Brüderlichkeit erfahren können. Unter ihnen waren auch bekannte europäische Persönlichkeiten, wie z.B. der Künstler Gustave-Henri Jossot, der Lehrer Dr. J. H. Probst-Biraben, die Orientalisten Augustin Berque und Frijthof Schuon und der Arzt Dr. Marcel Carret. Andere bekannte Persönlichkeiten wie z.B. der Metaphysiker René Guénon oder der Künstler Etienne Dinet trafen den Cheikh womöglich nicht direkt, ließen sich aber aus der Ferne von der Stimme aus Mostaganem inspirieren.
Cheikh Al-Alawi lebte zeitgemäß. Er verbot seinen in Europa lebenden Schülern das Tragen von religiöser Kleidung auf der Straße und dies wohlgemerkt in den Jahren 1920 bis 1930!
Er regte den Mensch an sich weiterzuentwickeln und zeitgemäß zu leben ohne die enge und essentielle Beziehung zum Spirituellen zu verlieren. Er akzeptierte alle Vorteile, die dem Menschen durch den materiellen Komfort entgegengebracht wurden, jedoch stets in enger Verbindung mit der inneren Dimension, in einem permanenten Gleichgewicht zwischen dem Weltlichen und dem Heiligen. „Das Autofahren zu erlernen, sich den wunderbaren Erfindungen der Mechanik anzupassen, lernen über Dinge nachzudenken und zu reflektieren, die dem Menschen zum Wohlstand verhelfen, all das ist nicht unvereinbar mit der Religion. (…) Nein! Die Religion hindert den Mensch nicht daran, den höchsten Gipfel der Wissenschaft zu erreichen, die Religion ist nur ein Führer.“ [3], sagte der Cheikh.
In einer seiner Weisheiten bringt er zum Ausdruck:
„Es gibt kein Atom im Universum, das nicht eines der Namen des Herrn in sich trägt.“
M. Jacques Carret beschreibt in einer seiner Studien den Geist, der die Tariqa Alawiya animierte:[4] „Die Tariqa Alawiya, gegründet im Jahre 1920 durch Cheikh Benalioua, besitzt die Originalität die alten Prinzipien des Sufismus in sich zu beherbergen und weitestgehend die Evolution des Islam hin zu einem Modernismus und einem Liberalismus gutzuheißen, den die Reformisten als exklusives Vorrecht für sich zu beanspruchen glaubten.“
Cheikh Khaled Bentounes, der aktuelle Lehrmeister der Tariqa Alawiyya, verdeutlicht:[5]
„Durch sein Leben und seine Lehre, zeigt uns der Cheikh, wie wir der Menschheit besser dienen können; wie wir versuchen können die Welt zu harmonisieren und schöner werden zu lassen. Der Cheikh lehrte, um es mit dem bewundernswerten Ausdruck des Doktor Probst-Biraben zu sagen, die ‚liebevolle Brüderlichkeit der Menschen’.“
Nach dem Tod von Al-Alawi im Jahre 1934 wird Cheikh Adda Bentounes sein Nachfolger. Cheikh Adda Bentounes führte den Orden im Geiste seines Meisters fort und gründet im Jahr 1948 mit dem Verein Les Amis de L’Islam (Freunde des Islam) den ersten religiösen Verein, der eine Plattform für Diskussionen und Begegnungen zwischen Religionen und verschiedenen Denkströmungen bot.
Geschichtlicher Überblick zum Alawiyya-Orden finden Sie hier.
Quellen: archive.is
[1] Schleßmann, Ludwig: Sufismus in Deutschland, 2003, S. 21. [2] Carret, Dr. Marcel in: Ein Sufi-Heiliger des zwanzigsten Jahrhunderts von Martin Lings, 2005, S. 14, S. 23 [3] Berque, Augustin, op. cit., S. 53. [4] Carret, Jacques zitiert aus dem Artikel: „Cheikh Adda Bentounes“ von Cheikh Khaled Bentounes anlässlich des 50-jährigen Andenkens an die Person des Cheikh Hadj ’Adda Bentounes.[5] Bentounes, Cheikh Khaled in: « Une voie soufie dans le monde: la Shâdhiliyya », 2005 von Eric Geoffroy.