Cheikha Rimitti – die Großmutter des Rai
Cheikha Rimitti mit bürgerlichem Namen Saâdia Bedief (8. Mai 1923 Oran/Algerien,† 2006 in Paris) war eine große algerische Raï-Sängerin. Die leidenschaftliche Musikerin gilt als die Großmutter des Rai und wird in der arabischen und algerischen Musikgeschichte lebendig als die Stimme einer Frau bleiben.
Rai, das ist die populäre Musik Algeriens im 20. Jh. Sie entstand aus einer Mischung ländlicher und urbaner Musikstile im Einzugsgebiet der Stadt Oran. In seiner ersten Blüte (ab den 20er Jahren) stand Rai für die Thematisierung alltäglicher Phänomene über die manche lieber geschwiegen hätten: Sexualität, hier besonders auch weiblicher Sexualität, Armut, Alkohol et cet. Darüber wurde in sehr volksnaher Weise gesungen.
„Er zermalmt mich,
er röstet mich.
Seinetwegen geifere ich wie Honiggebäck.
Oh je! Oh je!
Wehe mir, ich hab mir schlimme Sachen angewöhnt.
Er zermalmt mich,
er gibt mir zu trinken,
er macht mich besoffen,
er kitzelt mich.
Seinetwegen laufe ich blau an.“
Cheikha Rimitti: „Ydagdani“ (Er zermalmt mich)
Oder dieselbe noch provokanter in „Etna habibi“:
„Ich würde die Gelehrten gerne fragen,
ob es Sünde ist,
sich im Fastenmonat zu küssen.“
beide Zitate aus: F. Tenaille: Die Musik des Rai, Heidelberg 2003, S. 39
Seit Ende der 60iger Jahren wurde Rai erweitert und beispielsweise mit Pop/Rock-Elementen kombiniert. Anfang der 80iger Jahre kam der Synthesizer hinzu und gab dem Rai sein heute bekanntes Gewand. Diese Musik hat genau das, was sich Rai-Fans wünschen: leichter Pop, der hier manchmal auch in Funk wechselt.
Rimittis Namen selbst leitet sich von „Remettez“ – „Nachschenken“ ab. Sie kam damals, es dürfte in den späten 40er Jahren gewesen sein, beim Festival von Sidi mit ihren Kollegen in einen Regenguss. Man flüchtete in eine nahe französische Taverne wo sie von Fans erkannt wurde. Denen nun wollte sie gerne eine Runde panaché (Radler) ausgeben, konnte aber nur mehr schlecht als recht französisch sprechen: „Remettez panaché, remettez, remettez!“. Sie verfiel in einen Singsang, wobei ihr nordafrikanischer Akzent die „e“s zu „i“s werden ließ. Die Fans nahmen das „Rimitti“ dankend auf.
Die raue und freche Stimme Rimittis mag zwar verstummt sein, doch sie wird in der arabischen und algerischen Musikgeschichte lebendig bleiben als die Stimme einer Frau, die den Graben zwischen der Gesellschaft und der offiziellen, in langatmige Reden eingezwängten Kultur aufgezeigt hat.
Cheikha Rimitti, mit bürgerlichem Namen Saâdia Bedief, wurde am 8. Mai 1923 in einem Marktflecken in der Nähe von Oran, der Hauptstadt Westalgeriens, geboren. Sie stammte aus einer armen Familie und wurde früh Waise.
In den 1950er Jahren erfuhr sie mit ihrer zweiten Platte Charak, guetaâ (Zerreiß, zerfetze …) einen glanzvollen Aufstieg. Der Titelsong schlug ein wie eine Bombe, brach er doch mit sexuellen Tabus in einer in Traditionen verhafteten und in Verboten gefesselten Gesellschaft.
Während meiner Kindheit weigerten sich „ehrbare“ Familien, diese unzüchtigen Lieder zu hören. Doch die Frauen lauschten ihnen heimlich auf Festen. Noch heute wird das bekannteste Repertoire der Diva nicht im Radio gespielt.
Sängerin des Lumpenproletariats
Am Beginn des Weges von Cheikha Rimitti, die auf eine sechzigjährige Karriere zurückblicken kann, standen die Wandersänger. Als Heranwachsende begleitete sie diese von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt. Man lebte von der Hand in den Mund.
Es war eine Zeit in Algerien, in der das zu Landstreichern degradierte Volk angesichts der Arroganz der Kolonialherren irgendwie zu überleben suchte. Rimittis gesamte Karriere sollte sich am Rand des Offiziellen und Angepassten ereignen, sie war eine Sängerin des Lumpenproletariats, die in Tingeltangel-Kneipen und auf ländlichen Festen, später in Frankreich von Migranten gehört wurde.
Am Tag nach der Unabhängigkeit wurden ihre Lieder im Radio verboten, die Ehren des Fernsehen sollten ihr nie zu teil werden. Ende der 1970er Jahre war sie der Ablehnung müde und wählte das Exil in Frankreich, wobei sie mit Algerien nach wie vor enge Verbindungen unterhielt. Jedes Jahr kehrte sie für einige Zeit zurück.
Ihr ganzes Leben lang kämpfte sie um die Anerkennung durch ihr Heimatland, die ihr selbst jetzt nach ihrem Tod nicht zuteil wurde. Die offizielle algerische Presseagentur verbreitete lediglich eine kurze Mitteilung mit dem Hinweis auf ihr Ableben.
Die in Algerien auflagenstärkste Tageszeitung El Khabar verfuhr genauso. Nur die französischsprachigen Zeitungen widmeten ihr wahre Lobeshymnen. Das Kulturministerium, deren Ministerin immerhin eine Feministin ist, hüllte sich in Schweigen, wohingegen das Publikum, die Künstlerwelt und einige Intellektuelle mit großer Trauer auf den Tod der Diva reagierten.
Von westlichen Feministinnen entdeckt
Diese Trauer ist umso größer, als man den Dienst, den Rimitti dem algerischen Gesang erwiesen hat, nur schwer einschätzen kann. Immerhin war sie weltweit dessen außergewöhnliche Botschafterin. Ihr Werk, das von den Rai-Sängern geplündert wurde, über die sie sich spöttisch lustig machte, wurde Ende der 1980er Jahre von westlichen Feministinnen entdeckt, als der Rai sich seinen Weg in die Weltmusik bahnte.
Die kühnen Worte und das schnelle Tempo der Lieder Rimittis, in denen jegliche Scham über Bord geworfen wird, brechen Klischees auf und werfen ein schonungsloses Licht auf die Freiheit einer arabischen Frau, die normalerweise als unterwürfig oder schweigsam beschrieben wird.
Ich kenne keine westliche Sängerin, die so unverblümt und kraftvoll über Fleischeslust, Verletzungen, Alkohol oder Wahn gesungen hat. Rimitti, eine einfache Frau, die durch die schwere Schule des Lebens gegangen ist, ist selbst zu einer Schule geworden.
Nachgeahmt und geplündert
Verletzt durch die unaufhörliche Plünderung ihrer Arbeit, lief Rimitti im Lauf der letzten zehn Jahre den jungen Sängern den Rang ab, indem sie die Mittel der modernen Musik nutzte. In den 1990er Jahren experimentierte sie viel: Mit Robert Fripp und dem Bassisten von Red Hot Chili Peppers. Dabei nutzte sie auch Instrumente des Beduinengesangs – Gasba und Gallal -, auf ihrer letzten CD (N’ta Goudami) zusammen mit elektronischer Musik.
Über die jungen Sänger sagte sie spöttisch: „Sie haben von mir profitiert, um den Pop-Rai zu lancieren, das ist kein authentischer Rai. Also sagte ich mir, da ihr mich benutzt habt, werde ich euch mit euren eigenen Waffen schlagen, mit der amerikanischen Musik. Und ich habe sie um Längen überholt.
„Khaled und Safi Boutella haben mir La Camel stibitzt“, fügt die freigeistige Sängerin hinzu. „Zahouania hat Le Marabout geklaut, und dann das Nationalorchester von Barbesse, Cheb Abdou, alle haben sich bedient… Rimitti, das ist wie eine Palme mit vielen Datteln. Ich bin da, die Jungen haben sich aus dem Staub gemacht.“ Sie verstarb 2006 im Alter von 83 Jahren in Paris an einem Herzinfarkt. Bis kurz vor ihrem Tod trat sie noch regelmäßig auf. Quelle: de.qantara.de – Hamid Skif Aus dem Französischen von Ursula Günther, oneworld.at – Thomas Divis
Das Werk von Cheikha Rimitti umfasst 55 Schellackplatten, über 400 Kassetten und ca. 30 Alben auf LP und CD.
Diskografie
Sidi Mansour (1994) mit Robert Fripp, Flea und East Bay Ray (Dead Kennedys)
Cheikha (1995) wieder mit Flea und Robert Fripp
Trab Music (2000) aufgenommen in Oran 1993
Nouar (2000)
Live – European Tour 2000 (2001)
N’Ta Goudami (2005)