Das Portrait über den Märchenerzähler Naceur Charles Aceval
Weil im Schönbuch: Das Portrait über den Märchenerzähler Naceur Charles Aceval. „Die Geschichten haben mein Leben gerettet“ sagt Naceur Charles Aceval. Auf dem Tisch lagen frische Datteln, eingeflogen aus Algerien, seine eigene Teemischung dampfte in einer Kanne, die typischen kleinen, bunten Gläser standen davor und der Raum war von Kerzen erleuchtet.
Ich war gespannt auf diesen Mann, mit der angenehmen Stimme, dem offenen Lachen und der ruhigen Ausstrahlung. Gespannt auf seine Geschichte. Seine Geschichten.
Sein Leben so erzählt Naceur-Charles Aceval habe eigentlich 1830 begonnen – und noch bevor ich Zettel und Stift ausgepackt hatte, begann die erste Geschichte. Seine Geschichte und ich befand mich auf einmal mitten in der französischen Kolonialherrschaft. Ich sah, wie die Urväter Acevals, die baskische Familie nach Algerien ausgewandert war. Eine Gärtnerfamilie, die sich in Nordwestalgerien niedergelassen hatte und dort ein kleines Stück Land bewirtschaftete. Obstbäume pflanzte, Gemüsebeete anlegte. Auch die nachfolgenden Generationen an Söhnen wurden Gärtner. Bis auf Jean – der Straßenbauer werden wollte – und das auch tat.
Sein Weg führte ihn fort und doch näher hin zu seiner eigentlichen Bestimmung: er machte eine kurze Ausbildung als Straßenbauer und führte eine Arbeiterkolonie an, die Straßen in den Südwesten Algeriens baute, und die ihn immer weiter in den Süden des Landes brachten.
Irgendwann kam er an, kaufte sich ein Stück Land, auf dem auch ein Nomadenstamm lebte. Manch einer hätte die Nomaden wohl vertrieben, das Land für sich allein in Anspruch genommen. Jean jedoch kam gar nicht auf den Gedanken den Stamm Ouled Sidi Khaled zu vertreiben. Stattdessen vermehrte er ihn – denn er verliebte sich in die Tochter des Stammesoberhaupts und bekam sechs Kinder mit ihr. Er ein Christ, sie eine Muslima. Er ein Franzose, sie eine Araberin. Jedes ihrer Kinder bekam einen arabischen und einen französischen Namen. Ein Märchen, ja! Doch das gute Ende blieb zunächst aus.
Die Ehe basierte auf Liebe und Respekt. Das Nebeneinander der Kulturen funktionierte. Die Kinder lebten in beiden. „Meine Mutter hat immer gesagt, ihr wurdet in einem Steinhaus gezeugt und wuchst in einem Nomadenzelt auf“. Die Großmutter mütterlicherseits sorgte für die Kinder, der Stamm arbeitete bei Jean. So hätte es weitergehen können.
Doch die große Politik und die Entwicklungen sah es anders vor. Im November 1954 begann der Algerienkrieg um die Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich. Der Vater sah die Sicherheit der Familie in der Stadt eher gegeben und verließ sein Land. Er mietete eine kleine Wohnung in der Stadt an und hoffte, dass der Krieg bald vorbei gehen würde. Doch er sollte sich täuschen. 1958 brannten die Mudschaheddin die Farm der Familie nieder, alle Tiere wurden getötet. Ein Jahr später starb der Vater an Herzversagen. Naceur-Charles Aceval war damals acht Jahre alt. Seine Mutter blieb mit sechs Kindern zurück. Gehasst von den Franzosen, verachtet von den Arabern. „Ich kann mich gut erinnern“, erzählt Aceval und seine Stimme wird schwer.
Auch an diesem Nachmittag erzählt er die Geschichte, wie seine Mutter ihre Kinder mit Geschichten nährte. Wie sie das einzige was sie an Essbarem hatte weggeworfen hat, weil eine Kakerlake darin schwamm und sie die Kinder mit Märchen in den Schlaf erzählte. „Märchen heilen und Märchen nähren“, sagt Aceval, aber der Mutter müssen sie alles abverlangt haben. Denn der tägliche Überlebenskampf ging mit Sonnenaufgang weiter.
Kurz vor Kriegsende wurde die Mutter von den Mudschaheddin verschleppt. Gründe dafür brauchte es keine. Und es hätte auch keine dafür gebraucht, die Frau zu töten und die Kinder sich selbst zu überlassen. Das ist die Willkür eines Krieges.
Was es jedoch schlussendlich war, was den Kopf der Rebellengruppe dazu gebracht hatte, die Frau in dieser Nacht zu verschonen, wird wohl nicht zu ergründen sein. Ob die Frau sein Herz berührt hatte, ob es das Wissen um die Kinder war, die er damit zu Waisen gemacht hätte, ob an diesem Abend vielleicht schon genug gemordet worden war oder ob es einfach die Müdigkeit gewesen ist? Fortan stand die Familie unter der Obhut der Rebellen.
Viele Jahre später erfuhr Aceval, dass derselbe Mann drei jungen Menschen die Kehle durchschnitten hatte. Er begegnete ihm auch nochmals und zwar am Grab der Mutter. Damals fanden sich auch die Hände der beiden Männer. „Was ich damals gespürt habe, kann ich mit Worten fast nicht erklären“, lässt Aceval wissen und versucht es dennoch: „ich spürte den Menschen mit seiner ganzen Herrlichkeit und seiner ganzen Grausamkeit“.
1962 endete der Algerienkrieg, doch für die Aceval-Kinder war er damit noch lange nicht beendet. Sie wurden immer wieder beschumpfen, gehörten nirgends dazu. Die Mutter wurde ausgebeutet und was genau sie alles erdulden musste, um ihre Kinder zu schützen, wird wohl niemals jemand erfahren.
1973 ging Aceval nach Marseille. „Es war eine große Stadt“, berichtete er von seinen Eindrücken, beschreibt die vielen Farben, die vielen Menschen und Ampeln, von denen er zuvor noch nie eine gesehen hatte. Er bekam sofort Arbeit in einer Giftfabrik und kam damit vom Regen in die Traufe. „Die Angst war mein ständiger Begleiter, ist sie heute noch“.
Die zunächst erhoffte Freiheit in Frankreich entpuppte sich recht schnell als Ausbeutung. Als Aceval und sein Freund nicht schnell genug arbeiteten, wurden sie als dreckige Araber tituliert. „In Algerien war ich nicht daheim und in Frankreich war ich es auch nicht“. Doch wohin gehörte er überhaupt? „Wer auswandert, stirbt“, sagt er.
Der zweitälteste der Aceval-Brüder war damals über das französische Militär in Reutlingen stationiert und dorthin zog es nun auch Naceur-Charles. Allerdings nicht zum Bleiben. „Deutschland war zu kalt“, schmunzelt er Dass er geblieben ist, und sich sein Leben so entwickeln konnte, wie es sich entwickelt hat, ist dem deutschen Bier und den blonden Mädchen geschuldet. Beides gewann seinen Geschmack und als er sich dann auch noch verliebte, wurde Deutschland zu seiner neuen Bleibe.
„Die Nächte waren schön, die Tage waren schlecht“, fasste Aceval die damalige Zeit in ein kurzes Credo. Er heiratete, er bekam zwei Kinder, privat war er glücklich, er arbeitete bei Daimler – und dennoch war es ein Leben weit weg vom Märchen.
Heute kann Naceur-Charles sagen, dass Deutschland ihm das schönste gegeben habe, was er besitze: Freiheit, die Freiheit sich zu äußern. „Durch Deutschland habe ich meine Heimat und die Welt besser kennen gelernt“. Mit 50 Jahren bekam er einen algerischen Pass. Eine Genugtuung, die Aceval in Anwesenheit des Konsuls, der ihm das Dokument überreichte, beweinte. „Keiner konnte es verstehen“, so sein Versuch einer Erklärung. „Ich wollte immer Algerier sein und nun, da ich es offiziell war, spielte es keine Rolle mehr für mich“. So ist es wohl mit vielen Dingen.
Die Märchen kamen zu Naceur-Charles, als er sie am dringendsten brauchte. Sie retteten ihn, wiesen ihm einen neuen Weg. Einen Weg, der ihn heute glücklich macht. Seine Schwester Nora, in Frankreich eine bekannte Geschichtenerzählerin, schubste die Entwicklungen an, indem sie ihren Bruder zu einem Treffen von 25 französischen Märchenerzählern einlud. Allerdings zum Kochen, denn sie wusste wohl, dass sie ihn niemals hätte dazu bringen können, der Runde als Erzähler beizuwohnen. Doch seiner Leidenschaft dem Kochen widerstand Aceval nicht und zog zusammen mit seinem Couscous-Topf und seinen Messern an die Loire und bekochte die Runde. Am dritten Tag wünschte sich Bruno de la Salle, eine Geschichte von Naceur-Charles und er bekam sie. Es war der „Jungbrunnen“.
Danach war in ihm nichts mehr, wie zuvor. „Ich kam nach Hause und alles sprach zu mir“, beschreibt der Märchenerzähler die Tage der Rückkehr. Die Geschichten drängten nach außen und wenngleich widerwillig gab er dem nach. Allerdings nur im kleinen, eher privateren Rahmen. Einer zweiten Frau, der deutschen Märchenerzählerin Christiane Wilms, war es schließlich zu verdanken, dass der Algerier erstmals eine Bühne betrat. Sie selbst musste wegen eines Unfalls an diesem Abend passen und empfahl der Stuttgarter Bibliothek Aceval. Vor 200 Leuten sprach der Mann, der zuvor nicht einmal wusste, wie man Headset und Öffentlichkeit buchstabierte. Und vielleicht wäre dieser Auftritt eine einmalige Geschichte geblieben, wäre am Ende nicht eine ältere Dame auf Aceval zugegangen. Sie kam auf Krücken und dankte ihm. Er habe sie heute Abend in Länder mitgenommen, die sie immer bereisen wollte.
Begegnungen dieser Art sind es, die den Künstler dazu bewegen, die Angst, die er bis heute vor jedem Auftritt spürt, wegzudrücken und stattdessen zu erzählen. Und endlich war Naceur-Charles Aceval, das Kind einer großen Liebe, einer Araberin und eines Franzosen, einer Muslima und eines Christen angekommen. Nicht in Algerien, nicht in Deutschland, sondern bei sich.
Heute erzählt Aceval in Israel vor Menschen jüdischen, muslimischen und christlichen Glaubens und trägt die Märchen des Nomadenzelts mitten ins Europaparlament, dem wichtigsten Gebäude der EU. Er spricht in großen Sälen und in kleinen Ortsbüchereien. Er ist zum Anfassen und er berührt. Junge und alte Menschen. Er erzählt die Geschichten seiner Oma, erinnert sich dabei manchmal noch an den Geruch des Nomadenzeltes, wenn nach einem Regen die Sonne wieder schien und der Dampf zwischen den Kuhfladen hochstieg. Oder aber an den Geruch der algerischen Suppe, die seine Mutter zubereitet hat und er sieht dabei noch immer ihr Lächeln.
Die Entfernung von Algerien nach Deutschland war nicht annähernd so weit, wie der Weg Acevals zu sich selbst. „Die Geschichten haben mein Leben gerettet“ – sagt er am Ende und man vermutet, nicht nur seines…Quelle: Cornelia Schwarz/SCHWARZtexte – Freie Journalistin.
Im Schönaicher papermoon Verlag erschien erst kürzlich Naceur-Charles Acevals Werk „Der Mann der nicht sterben wollte“, Märchen aus dem Maghreb. Darin enthalten 14 Erzählungen. Das Vorwort schrieben Prof. em. Dr. Hermann Bausinger und Dr. Seddik Bibouche.
Was Sie beim Lesen des Buches „Der Mann der nicht sterben wollte“ auf keinen Fall erfahren werden. Von Hakim Aceval
Dies wird eine sehr subjektive Buchbesprechung, denn der Autor ist mein Vater und ich habe mit ihm gemeinsam die erste Rohfassung zu Papier gebracht, damals, 2007, als wir noch nicht wussten wie schwierig und langwierig es werden wird, einen Verleger zu finden.
Doch wo beginnen? Wahrscheinlich irgendwo zwischen Genesis 1,1 und jenem schicksalshaften Frühjahr 2007, an dem mein damals noch sehr frischgebackener Märchenerzähler-Vater und ich uns zu unserem allmorgendlichen Ritual trafen.
Es war einmal…. vor immerhin schon über achteinhalb Jahren, da begab es sich im Dorfe Weil im Schönbuch, dass ein 31jähriger Arbeitsloser und Hartz-IV-Empfänger, der damals noch an der Endfassung seiner Magisterarbeit in dem Fache der Japanologie arbeitete, sich parallel aber schon auf Arbeitssuche befand, sich jeden morgen in seinen über 15 Jahre alten Golf II setzte und aus dem benachbarten Holzgerlingen in sein Heimatdorf und in die Wohnung seiner Eltern fuhr. Der Vater, ein ehemaliger Energieanlagenelektroniker, der auch schon etliche Jahre arbeitslos war (Denkanstoss: Ausländer, über 50, Doitschland – null Chance auf Anstellung), hatte aus der Not des Nichtstunkönnens eine Tugend gemacht und sich darauf besonnen, welche Talente und Schätze er in sich trage.
Zunächst war da seine Liebe zum Kochen. Viele Jahre bereits hatte der mittelalte Berber seine Familie nicht nur mit Geschichten, sondern vornehmlich mit seinen Kochkünsten verzaubert. Angefangen hatte dies früh, als das Heimweh in ihm die Sehnsucht nach dem Couscous seiner Mutter erweckte. Auch aus dieser Not hatte er eine Tugend gemacht (wie wir sehen werden, besteht darin Teil seiner Zauberkraft – er verwandelt den Schmerz in etwas Köstliches, das seinen Wert vor allem dadurch erhält, dass es mit anderen geteilt wird), und schon bald war er weit und breit berüchtigt als der kochende Alchemist von Weil im Schönbuch. Unsere Feste waren legendär – ob nun das klassische Couscous Royale oder andere Köstlichkeiten (seine Lammkeule hatte den pubertierenden Sohn nach dreimonatiger Fleischabstinenz wieder zum Fleischessen „bekehrt“) – Charles Aceval war ein Star-(Hobby)koch und dazu noch ein beliebter Gastgeber. Und dies nicht nur wegen des roten Weines, den es in unserem Hause natürlich auch immer in Strömen gab. Sondern – natürlich – wegen der Ströme von Geschichten, Anekdoten, Witzen oder Bonmots, die Charles ganz den Gästen und Gegebenheiten anpasste. Dass er dabei oft auch mal über die Stränge schlug, davon weiß seine Frau, davon wissen seine Kinder zu berichten. Doch das ist eine andere Geschichte und diese muss nicht erzählt werden.
Doch zurück zu jenem magischen Frühjahr 2007. Es war ein schwäbischer Frühling, wie es schon viele gab. Die Bäume schlugen aus, die Allergiker allergikten, und die Luft am Rande des Dorfes war voll von Neuanfang und Hoffnungen.
Das tägliche Ritual war das Folgende: der Sohnemann entstieg, damals noch weniger schwerfällig als heute, seinem Golf II, der Vater war in der Regel schon längst auf, hatte bereits seinen Morgenspaziergang über die Feldwege von Weil im Schönbuch gemacht und setzte nun eine Karaffe köstlichen Kaffees auf, in der Regel mit Zimt oder Galgant gewürzt und natürlich nach Berberart stark gesüßt.
Und dann setzten sie sich in das Arbeitszimmer. Der Sohn vor dem Computer, der Vater oft auf dem Boden – ganz wie im Maghreb eben. Und dann begann er, ein Nomadenmärchen zu erzählen. Nach dem ersten Durchlauf unterhielt man sich erst noch über die Geschichte, dann schrieb der Sohn eine Rohfassung auf, und versuchte dabei, die Worte des Vaters, die sehr natürlich flossen und nicht schriftsprachlich formuliert waren, eben in jene Schriftsprache zu übersetzen, ohne dass sie ihren Geist, ihre Essenz verlören. Das war ihm nur möglich, weil er schon als Kind viele Geschichten von den Eltern zu hören bekam. Vom Vater eben Märchen aus den algerischen Hochebenen, von der Mutter die guten Hausmärchen Grimmscher Herkunft.
Es war eine schöne Arbeit, denn es verband Vater und Sohn wie ein Band, dass zuvor nur unbewusst zwischen ihnen bestanden hatte, jetzt aber deutlich hervortrat. Der Sohnemann, der als starker Introvert schon in seiner Kindheit (vielleicht mit sieben, acht Jahren) so Dinge sagte wie: „Ohne Freunde könnte ich leben, aber ohne Bücher niemals!“. Der Sohn, der überallhin seine Bücher mitnahm, und sich auch auf Feiern bei Bekannten und Freunden lieber mit den Romanhelden als mit den anwesenden Personen beschäftigte. Der schon Weltflucht betrieb, lange bevor er wusste, dass dies überhaupt ein Wort war.
Und der Vater, der eher extrovertierte, der die Energie der Gäste brauchte, schon damals, ein Publikum, mit und zu dem er sprechen konnte. Den die Priester der örtlichen Neuapostolischen Kirche vergeblich versuchten, zum Glauben zu bekehren, die aber immer wieder kamen, weil sie die Gespräche und den angebotenen Rotwein so attraktiv fanden. Ja, die teilweise sogar – und ich behaupte das steif und fest! – wegen dieser Gespräche ins Zweifeln kamen und fast vom Glauben abfielen. Und wenn sie schon nicht gleich ganz abfielen, dann doch in ihren Ansichten weniger absolut und wesentlich offener, toleranter wurden.
Denn schon damals war der Vater ein Botschafter gewesen in der Enge der schwäbischen Dorfwelt. Ein „Araber“, (der manchmal auch ganz praktischerweise als „Franzos“ durchging, wenn er es mit etwas einfältigeren Zeitgenossen zu tun hatte) – ein Unbekannter und nicht ganz greifbarer. Einer, der in Algerien Sport studiert hatte, dem aber in Deutschland noch nicht einmal ein Hauptschulabschluss attestiert wurde. Und der in seiner Not und geistigen Einsamkeit zu Büchern griff. Zu Schopenhauer, zu Tucholski, und zu vielen anderen. Bald fühlte er, dass seine Arbeitskollegen ihn nicht immer verstanden. Zu hoch gegriffen waren oft seine Gedankengänge. Doch aufgewachsen in Algerien, wo man noch obrigkeitshöriger ist als im alten Preußen, fand er keinen Anschluss zu Menschen, bei denen er auf Verstädnis, ja auf Freundschaft hätte hoffen können – es fehlte ihm am Mut, Kontakte zu diesen „höheren Kreisen“ zu suchen.
Schließlich kam die Arbeitslosigkeit. Wie eine bleierne Weste senkte sich die Banalität des Alltags auf ihn. Tagein, tagaus wusste er nicht, was er mit sich und all der Zeit anfangen sollte. Die Gänge auf das Arbeitsamt waren deprimierend – es gab keine Hoffnung auf eine Neuanstellung, soviel wurde ihm bald klar gemacht.
Und so musste er sich in einem Alter, in dem andere schon an die Frührente anfangen zu denken, an eine Neuorientierung seines Lebens machen. Die Kinder waren flügge geworden, die erzieherische Aufgabe war erfüllt – was nun?
Die Rettung kam in Gestalt seiner Schwester Nora. Diese war in Frankreich bereits eine bekannte Geschichtenerzählerin und Autorin vieler Bücher für Kinder und Erwachsene. Sie hatte die Materie studiert, hatte eine Magisterarbeit über die mündlichen Erzähltraditionen im Maghreb geschrieben, ja war auf ethnografische Fahrten durch Algerien gereist und hatte mit einem Diktiergerät bewaffnet alte Mütterlein beim Erzählen noch viel älterer Geschichten aufgezeichnet. Sie hatte Charles eingeladen, sie auf eine Märchenkonferenz an die Loire zu begleiten. Er ging mit als der Bruder und als ausgezeichneter Couscous-Koch. Und dort geschah es – wie im Märchen – dass er in einem Loire-Schloss landete und der Besitzer ihn abends aufforderte, auch etwas zu erzählen. Als Bruder der berühmten Erzählerin habe er doch sicherlich auch etwas davon in sich. Er sei ja bestimmt mit denselben Geschichten groß geworden. Das war er. Und die Aufforderung zum Erzählen war wie ein „Sesam öffne Dich“ für Charles gewesen – wo davor nichts war als die Frage nach der Aufgabe, sprudelte eine köstliche Quelle an Geschichten. Es hörte gar nicht mehr auf – der Damm war gebrochen.
Seitdem kennen alle Raben und auch so mancher Bussard und streunende Katze den Märchenerzähler von Weil. Denn seitdem geht er morgens, manchmal auch mittags, seine Runden über die Felder am Rande der Ortschaft, und erzählt seine Geschichten dem Himmel, den Bäumen, den Tieren, wie einst Franz von Assisi. Er stellte erstaunt fest, dass die Märchen nicht nur alle bereits in ihm waren, sondern auch, dass sie viel mehr waren als aufgezeichnete oder gemerkte Information. Sie waren wie Lebewesen. Und je mehr Geschichten er erzählte, umso mehr neue Geschichten wurden wach und wollten auch hinaus und erzählt werden. Denn das Wort reist, und es findet immer sein Ziel.
Anfangs, also bereits vor 2007, hatte Charles sich vor allem in Tübingen und Umgebung mit dem Konzept „Couscous und Märchen“ versucht, einen Namen zu machen. Beizeiten machte er für das Mittagsmenü im Café-Bistro „LaTour“ im Tübinger Französischen Viertel die Speisekarte. Auf Feste (runde Geburtstage, vor allem) wurde er eingeladen. Anfangs stand das Essen im Vordergrund, aber bald merkte er, dass der „Nachtisch“ an Geschichten – seien es Märchen und Weisheitsgeschichten aus dem Maghreb, seien es biografische Erzählungen aus seiner Kindheit im Algerienkrieg – auf einen viel größeren, und beinahe unstillbaren Hunger bei seinen Auftraggebern stießen. Und so wagte er erste Schritte ohne das kulinarische Drumherum.
Der Sohn musste da an eine Episode aus seiner Kindheit in Weil im Schönbuch denken. In der Hartmannstraße waren die Kinder damals, Ende der 70er-Jahre, alle mit Fahrrädern bestückt gewesen (damals gab es das Konzept des Fahrradhelmes noch nicht, trotzdem sind alle unbeschadet groß geworden). Er war stolzer Besitzer eines knallroten Fahrrades, natürlich mit Stützrädern. Da die Kinder aber die ganzen Sommerferien hindurch jeden Tag für viele Stunden mit ihren Rädern die Straßen auf- und ab fuhren, standen seine Stützräder bald immer weiter ab. Ein älterer Nachbar konnte das irgendwann einmal nicht mehr länger ertragen und hat die Stützräder abgeschraubt. Der Sohn war bis zum Schluss der felsenfesten Überzeugung gewesen, ohne die Stützräder sofort umfallen zu müssen – obwohl er sie schon längst nicht mehr nutzte. Natürlich ging es von da ab auch ohne.
Zu dem Zeitpunkt, an dem der Vater seine Stützräder peu à peu abschraubte, wanderte der Sohn leider nach Dublin aus. Wegen seines Vornamens und seiner Studienwahl war es ihm nicht gelungen, eine Arbeit in Deutschland zu finden. In Großbritannien und Irland jedoch boomte es damals noch, und man konnte sich vor Jobangeboten kaum retten. Als ein Headhunter der Firma Google ihn am Ostermontag 2007 anschrieb, wollte er die E-Mail bereits als Spam löschen. Vier Monate später kam er mit Sack und Pack (und circa 800 Büchern aus 31 Jahren Leseleidenschaft) im trüben Dublin an.
Den steigenden Stern seines Vaters sah er aus der Ferne mit Freude, Stolz und immerwährendem Schmerz – nicht direkt teilhaben zu können an seinen Freuden, Auftritten und Aktivitäten war und ist ein Stachel in seiner Seite.
Einer der frühen Auftritte des Vaters war allerdings in Dublin gewesen! Im Frühjahr 2008 hatte der Sohn Kontakt mit dem dortigen „Narrative Arts Club“ aufgenommen, und dieser organisierte freundlichkeitshalber die sehr stilvollen Räume im „Library Room“ des Central Hotel. Gäste waren vor allem KollegInnen aus deutschsprachigen Teams, aber auch andere „Expats“ kamen, denn man hatte am hiesigen Goethe-Institut einen Aushang angebracht.
In Deutschland folgten ein Radio-Interview mit dem Tübinger Alternativ-Sender „Wüste Welle“, eine Einladung zu „Kaffee oder Tee“ des SWR Fernsehens; schließlich eine 30-minütige Dokumentation des SWR, „Der Märchenerzähler“, die man heute noch auf YouTube anschauen kann.
Ein Meilenstein war ein neunseitiges Special in der bundesweiten Zeitschrift „Brigitte Woman“, welches seinen Bekanntheitsgrad erheblich vergrößerte und ihm Aufträge in ganz Deutschland, aber auch in Österreich und der Schweiz bescherte.
Trotz all dieser relativ frühen Erfolge fand sich weit und breit kein Verlag, der Interesse an dem Buchmanuskript hatte – von den renommierten Verlagen hagelte es Absagen. Und so schlummerte das Buchprojekt, wie einst die Märchen selbst, und wartete auf einen Märchenprinzen, der es wach küsste.
Das Buch an sich
So, nun aber zum Buch selbst. Wie so oft im Leben war es eine Mischung aus Beharrlichkeit und günstigen Synchronizitäten, die letztlich dazu führten, dass der lokale Papermoon-Verlag Interesse an dem Buchprojekt fand. Eine auf persönlichen Beziehungen beruhende Angelegenheit, was dazu führte, dass das Buch auch persönlich und persönlich Ansprechend geworden ist!
Geadelt wird das Buch zudem durch die Vorwörter zweier Tübinger Autoritäten. Professor em. Hermann Bausinger, Volkskundler und Germanist, der den Lehrstuhl für Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen begründete und somit einen Meilenstein der Volkskunde in die Welt getragen hat. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die Erzählforschung, und er ist Mitherausgeber „Enzyklopädie des Märchens“.
Dr. Seddik Bibouche, ein persönlicher Freund der Familie, stammt aus derselben Gegend in Algerien und ist Sozialwissenschaftler mit einem starken Fokus auf Migrations- und Integrationsforschung und sehr viel Praxiserfahrung aus seiner Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.
Die Vorworte an sich sind den Kauf des Buches schon wert, und sie adeln die Arbeit natürlich ganz erheblich mit ihrem wissenschaftlichen Wert.
Was ist also nun der „Mann, der nicht sterben wollte“? Nun, für den Sohn war diese Geschichte immer eine eher lustige, oder tragi-komische Angelegenheit. Denn das klassische Märchen vom „Mann, der nicht sterben wollte“ ist für sich genommen kurz und kompakt, mit einem unerwarteten Ende. Erst bei näherer Betrachtung erkennt man die Weisheit in der Geschichte.
Die Idee des Vaters war es schon damals gewesen, ein Märchenbuch zu schreiben, dass anders ist als die üblichen Märchenbücher am Markt. Man kennt sie ja, die dicken Schinken mit „Märchen aus x, Märchen aus y“, und in der Regel verstauben sie in den Regalen oder vermodern in Flohmarktkisten.
Natürlich besitzt der Vater selbst viele dieser Bücher, denn er geht auch gerne auf Entdeckungsreise in andere Kulturkreise, und ist immer wieder überrascht, wie universal die Märchen letztlich doch sind. Oder wie Professor Bausinger sagt: „Märchen sind Allgemeinbesitz; sie gehören niemandem.“
Die Idee des Vaters war es nun gewesen, den Protagonisten, den „Mann, der nicht sterben wollte“ auf eine längere Reise zu schicken. Ähnlich dem Dekameron (oder 1001 Nacht wohl eher…) dient die Titelgeschichte als Rahmenhandlung, in dessen Verlauf viele weitere Geschichten erzählt und erlebt werden. Der Leser begleitet den „Mann, der nicht sterben wollte“ somit auf seiner Queste nach der Unsterblichkeit. Hier schlägt der Vater eine weitere Brücke über die Kulturen: waren die Kreuzritter, die Blut, Tod und Verderben in den arabischen Raum brachten, nicht auch in einer mythischen Dimension auf einer Queste nach Unsterblichkeit, nach dem Heiligen Gral? Nun, auch dieses Thema ist nicht Alleinbesitz eines Kulturkreises, sondern ist eben auch Thema dieses Märchens, wenn es hier auch nicht um einen Becher geht und religiöse Figuren keine Rolle spielen.
In den heutigen Zeiten, in denen der Sohn es oft hinderlich findet, dass seine Eltern ihm einen arabischen Namen gaben (damals, in den 70ern, als der Feind noch der Russe war), wird ihm immer wieder bewusst, wie grundlegend wichtig die Arbeit des Vaters ist. Neulich war er beim Sächsischen Märchenfestival und hat Kindern aus Sachsen die Welt des Orients näher gebracht. Fazit? Kinder kennen keinen Rassissmus. Sie sind offen, neugierig und können noch auf die Stimme des Herzens hören. Auch im Pegida-Land Sachsen. Sachen gibts.
Das Orient-Bild vieler Europäer ist leider verschoben. Das trifft leider aber auch auf hier lebende Migrantenkinder in der zweiten, dritten oder gar vierten Generation zu, denen die hiesigen Gesellschaften auf Grund von Aussehen oder Namen die Integration immer noch erschweren, und die zu romantisierenden Vorstellungen über die Kulturen der Länder ihrer Vorfahren neigen.
„Kommunikation, wenn sie richtig betrieben wird, führt zu Kommunion“, sagte der Vater bereits vor vielen Jahren oft. Es ist das Wort, der Austausch des Wortes, das die Menschen verbindet. Wo schweigen herrscht, wird Ignoranz, Angst und letztlich Hass und Gewalt Tür und Tor geöffnet.
Wo wir kommunizieren, wirklich kommunizieren, wächst Verständnis. Wir sind ähnlicher, als uns bewusst ist, ähnlicher, als unsere Regierungen uns glauben machen. Unsere Geschichten sind universell wie die Märchen. Der „Lokalkolorit“ mag anders sein, aber wir alle sind auf diesem Planeten auf Gedeih und Verderb einer Sache ausgeliefert: uns selbst.