Märchenreihe Maghreb #8 – Zwei Brüder, zwei Schicksale
Jeden Freitag stellt uns der Geschichtenerzähler und Autor Naceur-Charles Aceval ein Märchen aus seinen Büchern vor und entführt uns mit seinen Geschichten und Weisheiten in die Märchenwelt des Maghreb.
„Menschen kommen, Menschen gehen! Allein das Wort reist und bleibt und erreicht immer sein Ziel.“ so fangen immer die Erzählungen von Naceur-Charles Aceval an, welche der Erzähler direkt aus dem Mund seiner Mutter gehört und die ihn von Kindheit an tief geprägt haben. Es sind die Geschichten und Märchen aus der Welt der Nomaden und dem Nomadenzelt seiner Kindheitstage und Vorfahren in den Hochebenen Algeriens, zwischen Meer und Wüste, zwischen Nomaden und Seßhaften, die direkt aus der mündlichen Erzähltradition des Maghreb entstammen.
Zwei Brüder, zwei Schicksale
Aus dem Buch „Der Erzähler von Algier“, Oktober 2017, Papermoon-Verlag. Kostet 15,00€, Bestellung direkt bei Naceur-Charles Aceval.
Nach seinem Tod hinterließ ein Bauer seinen beiden Söhnen einen Acker. Diese teilten das Land gerecht auf. Bei einem der beiden gelang alles, was er pflanzte, bei dem anderen wuchs so gut wie nichts, auch wenn er dasselbe aussäte. Es war wie ein Fluch. So wurde der eine immer reicher und der andere immer ärmer. Wie es im Leben häufig ist, geben die Reichen den Armen nichts, auch wenn sie Brüder sind.
In einem Jahr wurde dies besonders deutlich: Der Reiche hatte eine großzügige Ernte, und bei dem Armen wuchs überhaupt nichts. Eines Nachts ging der Arme, mit der Sense in der Hand, auf das Feld seines Bruders, um etwas Essbares für seine Kinder zu holen. Dort traf er eine große Gestalt, einen Mann, der mit seiner rechten Hand Samenkörner ausstreute. Die Gestalt, deren Gesicht man nicht sehen konnte, fragte den Armen:
„Was willst du hier?“ Der junge Bauer antwortete:
„Ich bin beschämt, denn ich bin auf das Feld meines Bruders gegangen, um etwas zu stehlen, bevor meine Kinder verhungern. Aber wer bist du? Was machst du hier?“, fragte er den Fremden. Dieser gab ihm zur Antwort:
„Du siehst ja, ich säe. Ich bin deines Bruders Glück und arbeite für ihn.“ Der arme Bauer wollte wissen:
„Wann kommst du zu mir?“ Der Fremde entgegnete:
„Ich sagte dir doch, ich bin deines Bruders Glück.“
„Und wo bleibt mein Glück?“, fragte der Bauer.
„Es schläft dort hinter dem Felsen. Du musst es nur aufwecken“, erwiderte der Fremde. „Aber ich gebe dir einen Rat: du solltest nicht sanft mit ihm umgehen, es schläft fest und schon viel zu lange. Du darfst ihm keine Ruhe lassen.“ Schnell eilte der arme Mann zu seinem Glück. Und tatsächlich, dort lag es und schnarchte. Laut rief er:
„Steh auf, du Faulpelz, steh auf!“ Aber es rührte sich nicht. Er packte es an den Schultern, schüttelte es, aber es bewegte sich nicht. Selbst ein paar Tritte halfen nicht. Er sah sein Glück dort liegen, die Beine gespreizt, schaute auf die großen Füße und hatte plötzlich eine Idee:
Er trat näher und biss sein Glück kräftig in den großen Zeh. Dieses ließ einen lauten Schrei los:
„Au, bist du wahnsinnig, willst du mich etwa auffressen?“
„Bei Gott, das werde ich tun, wenn du nicht aufstehst, so hungrig wie ich bin!“ rief der Bauer.
„ Geh sofort auf mein Feld und beginn mit der Arbeit.“ Das Glück entgegnete:
„Oh nein, ich bin kein Bauer und kann dir nur helfen, wenn du in die Stadt gehst und dort als Kaufmann tätig wirst.“
Am nächsten Morgen verkaufte der arme Bauer seinen einzigen Esel, verabschiedete sich von seiner Frau und seinen Kindern und machte sich auf den Weg in die Stadt. Unterwegs traf er einen älteren Mann in einem weißen Gewand, der auf einer Kamelstute saß. Links und rechts waren zwei Säcke festgebunden. Beide Männer begrüßten sich. Der Reiter stieg ab und fragte den jungen Bauern, wohin ihn sein Weg führe. Dieser antwortete:
„Ich bin auf dem Weg in die Stadt, um mein Glück als Kaufmann zu versuchen.“
„Oh, junger Mann, da hast du dir einen schwierigen Beruf ausgesucht. Um Kaufmann zu werden, muss man ein besonderes Gespür haben“, erwiderte der Mann. „Ich weiß, wovon ich rede. Seit vielen Jahren bin ich als Kaufmann unterwegs.“
„Und was verkaufst du?“ fragte der Bauer.
„Alles, ich verkaufe einfach alles. Heute zum Beispiel werde ich Reis verkaufen.“
„Also sind die beiden großen Säcke mit Reis gefüllt“?, fragte erstaunt der junge Bauer.
„Nein, nein“, erwiderte der Kaufmann, „ein Sack ist mit Reis gefüllt und der andere mit Sand.“
„Mit Sand? Wozu denn mit Sand?“, fragte der Bauer. Der Kaufmann antwortete:
„Ja, mit Sand, damit mein Kamel im Gleichgewicht geht.“ Da lachte der junge Bauer:
„Wie umständlich, lieber Kaufmann, es wäre einfacher, den Reis in zwei kleinere Säcke zu packen. Auch so ginge dein Kamel im Gleichgewicht und hätte weniger zu tragen.“
Da staunte der Kaufmann:
„Ich sehe, dass du ein Denker bist.“ Ihm gefiel dieser kluge junge Mann, und er fuhr fort:
„Ich besitze in der Stadt einen kleinen Laden und könnte dich mitnehmen, um zu sehen, ob du fähig bist, die Ware an den Mann zu bringen.“ So bekam der junge Bauer an demselben Abend einen Raum mit Waren, die er verkaufen sollte und daneben einen eigenen Schlafraum. Bevor er an diesem Abend zu Bett ging, stand plötzlich sein Glück vor ihm und fragte:
„Erzähle, wie ist es gelaufen?“
„Recht gut, ich habe einen Kaufmann getroffen…“
„Ja, ja, ich weiß, den habe ich zu dir geschickt. Und jetzt pass gut auf: du wirst viel verkaufen und viel Geld verdienen. Nimm es, leihe dir eine weitere Summe von dem Kaufmann und erwerbe so viel Kaffee, wie du bekommen kannst. In den nächsten zwei Monaten wird ein großer Kaffeemangel herrschen, und die Preise werden so hoch steigen, dass du ein Vermögen machen kannst.“
Genauso geschah es. In kurzer Zeit wurde der Bauer so reich, dass er einen eigenen Laden aufmachen und ein Haus kaufen konnte. Voller Stolz holte er seine Frau und seine Kinder zu sich in die Stadt.
Was will uns diese Geschichte sagen, liebe Leser? Hätte unser Bauer nicht sein Glück selbst in die Hand genommen, oder vielmehr zwischen die Zähne dann hätte er heute noch nichts zu kauen.