Märchenreihe Maghreb #7 – Malik der Löwe und die Gazelle
- Jeden Freitag stellt uns der Geschichtenerzähler und Autor Naceur-Charles Aceval ein Märchen aus seinen Büchern vor und entführt uns mit seinen Geschichten und Weisheiten in die Märchenwelt des Maghreb.
„Menschen kommen, Menschen gehen! Allein das Wort reist und bleibt und erreicht immer sein Ziel.“ so fangen immer die Erzählungen von Naceur-Charles Aceval an, welche der Erzähler direkt aus dem Mund seiner Mutter gehört und die ihn von Kindheit an tief geprägt haben. Es sind die Geschichten und Märchen aus der Welt der Nomaden und dem Nomadenzelt seiner Kindheitstage und Vorfahren in den Hochebenen Algeriens, zwischen Meer und Wüste, zwischen Nomaden und Seßhaften, die direkt aus der mündlichen Erzähltradition des Maghreb entstammen.
Malik der Löwe und die Gazelle
Aus dem Buch „Der Erzähler von Algier“, Oktober 2017, Papermoon-Verlag. Kostet 15,00€, Bestellung direkt bei Naceur-Charles Aceval.
Eines Tages beschloss Malik, der Löwe und König aller Tiere, zu heiraten. Dazu musste er nur noch die richtige Braut finden. Er rief seinen Wesir, den Fuchs, zu sich und sprach:
„Ich habe beschlossen zu heiraten. Ganz gleich, welchem Stamm meine Braut angehört, sie soll jung, hübsch und fleißig sein.“
Ein Rabe wurde als Ausrufer gewählt, mit dem Auftrag durch das ganze Land zu fliegen und zu verkünden:
„Malik, unser König, will heiraten. Malik will heiraten! Die Braut soll jung, hübsch und fleißig sein, ganz gleich, welchem Stamm sie angehört.
Alle jungen Mädchen sollen sich ihm am morgigen Vormittag vorstellen, damit Malik eine Braut erwählen kann!“
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch Wald und Steppe, und am nächsten Vormittag versammelten sich die Bewerberinnen beim König aller Tiere.
Malik saß auf seinem Thron, neben ihm sein Wesir, der Fuchs. Als erstes stellte sich eine Bewerberin vom Stamm der Elefanten vor. Sie hatte große Augen und lange Wimpern, eine rote Schleife zwischen den Ohren und blinzelte den König mit ihren schönen Augen an.
„Oh, sie hat wahrlich schöne Augen“, sprach der König. „Aber sie kommt nicht in Frage, denn das wäre viel zu gefährlich. Wenn die Elefantendame sich nachts umdreht, dann bin ich platt wie ein Pfannkuchen. Nein! Nein, sie kommt nicht in Frage.“
Mit einer Träne im Auge verließ die hübsche Elefantendame die Runde.
Als nächstes bewarb sich eine junge Schönheit vom Stamm der Affen. In der linken Hand hielt sie eine Banane, hüpfte von Ast zu Ast und lauste dabei ihr Fell mit der rechten Hand.
„Welch eigenartige Gestalt, und was treibt sie denn da!“ stotterte Malik. „Das ist eine junge Äffin“, antwortete sein Wesir „und bekanntlich lausen sich die Affen. Es heißt, die Affendame isst ihre Läuse“. „Sie isst ihre Läuse?“ erschrak der König, „Entsetzlich! Auch sie kommt nicht in Frage!“
„Macht nichts“, sagte die Äffin, „dann esse ich meine Banane eben allein!“
Plötzlich standen vier lange Stangen vor dem König. „Was soll das wohl bedeuten?“ fragte dieser. „Schaut nach oben, Majestät“ sprach der Wesir. Malik hob langsam den Kopf und erblickte… eine Giraffe.
„Oh, sie gefällt mir, weil sie einen wunderschönen Hals hat, aber auch sie kommt nicht in Frage. Um sie zu küssen brauche ich eine Leiter. Nein, sie soll sich entfernen!“
Traurig verließ die Giraffe die Runde und sprach:
„Wie schade, aber ich gehe erhobenen Hauptes.“
Nach und nach kamen viele junge Mädchen, ja sogar eine kleine schwarze Ameise, weiß gekleidet. Da mussten alle lachen.
„ Was lacht ihr so dumm? Ist hier etwa jemand fleißiger als ich?“, rief die kleine Ameise.
An jeder heiratswilligen Tierdame hatte der König etwas auszusetzen. Am Ende blieb keine einzige mehr übrig.
Malik, der Löwe und König aller Tiere, saß auf seinem Thron, das Kinn auf die Pfote gestützt, und schaute traurig in die Ferne.
Dort, auf einem Felsen, stand ein junges schönes Mädchen voller Grazie. Sie war hübsch und stolz. Dem König verschlug es fast die Sprache, und er stotterte: „W-wer ist diese schöne Erscheinung?“
„Das ist eine Gazelle“, entgegnete der Wesir. „Eine Gazelle? Warum kam sie nicht zur Brautschau? Bringe sie sofort hierher!“, befahl Malik.
Man brachte die Hübsche zu ihm, und der König aller Tiere machte ihr ohne Umschweife einen Heiratsantrag. „Oh, du Schöne, nur du wirst meine Frau und keine andere.“
„Malik“, antwortete die Gazelle, „ich bin hoch geehrt und geschmeichelt von deinem Angebot, aber ich muss leider ablehnen.“
„Aber warum? Bin ich nicht hübsch und nicht mächtig genug?“
“Oh doch, Malik, du bist das schönste und stärkste aller Tiere, aber ich kann deinen Heiratsantrag nicht annehmen.“
„ So nenne mir den Grund, schöne Gazelle!“
„Malik, du gehörst zu den Fleischfressern, und ich, wie alle Gazellen, zu den Grasfressern. Zwischen uns gibt es keine Gemeinsamkeiten.“
„Aber ich liebe dich und kann ohne dich nicht leben!“
Malik versuchte nach der Schönen zu greifen. Die Gazelle rannte davon
und der verliebte Malik, so schnell er konnte, hinterher. Seit diesem Tag läuft eine Gazelle fort, wenn sie nur von Ferne einen Löwen sieht. Trotzdem keucht der Löwe ihr nach, so schnell er kann, und ruft:
„Warte, Warte, du schöne zarte Gazelle, ich habe dich zum Fressen gern!“ So war es, so ist es noch heute und so wird es immer bleiben.