Märchenreihe Maghreb #5 – Begegnung mit dem Tod
Jeden Freitag stellt uns der Geschichtenerzähler und Autor Naceur-Charles Aceval ein Märchen aus seinen Büchern vor und entführt uns mit seinen Geschichten und Weisheiten in die Märchenwelt des Maghreb.
„Menschen kommen, Menschen gehen! Allein das Wort reist und bleibt und erreicht immer sein Ziel.“ so fangen immer die Erzählungen von Naceur-Charles Aceval an, welche der Erzähler direkt aus dem Mund seiner Mutter gehört und die ihn von Kindheit an tief geprägt haben. Es sind die Geschichten und Märchen aus der Welt der Nomaden und dem Nomadenzelt seiner Kindheitstage und Vorfahren in den Hochebenen Algeriens, zwischen Meer und Wüste, zwischen Nomaden und Seßhaften, die direkt aus der mündlichen Erzähltradition des Maghreb entstammen.
Begegnung mit dem Tod
Aus dem Buch „Kleine Märchen, große Weisheiten“, Mai 2017, Papermoon-Verlag. Bestellung direkt bei Naceur-Charles Aceval.
Am Anfang der Zeit, als Gott die Menschen erschuf, gehörten auch Tod und Sterben zu seiner Schöpfung. Wenn der Tod jemanden zu sich holen wollte, sagte er diesem Bescheid, damit er sich vorbereiten und Abschied nehmen konnte. Eines Tages jedoch, begannen die Menschen großen Gefallen am Leben zu finden. Sie flohen und versteckten sich vor dem Tod. Von da an beschloss dieser überraschend zu kommen- jedenfalls in den meisten Fällen.
Es gibt dazu eine Geschichte, die ich euch gern erzählen möchte.
In jener Zeit, in der Stadt Bagdad, schickte ein Schneider seinen Knecht auf den Markt, um Stoffe für ihn zu kaufen. Kurze Zeit später kam dieser außer Atem zurück, und sagte:
„Herr, Herr! Ich habe auf dem Markt einen Mann ganz in Weiß gesehen. Auf seiner Schulter trug er ein Leichentuch. Ich glaube, es war der Tod. Er hat mich mit einem seltsamen Blick angeschaut, und ich bin sicher, dass er meinetwegen gekommen ist. Bitte, gib mir ein Pferd, damit ich fliehen kann.“
Der Schneider gab dem Knecht sein schnellstes Pferd und sagte zu ihm:
„Nimm das Pferd und fliehe soweit du kannst, bis in die Stadt Samara. Dort wird der Tod dich nicht finden.“ Der Knecht nahm das Pferd und ritt so schnell er konnte davon. Der Schneider ging selbst auf den Markt, um seine Stoffe zu kaufen. Dort sah auch er den Mann in Weiß und fragte ihn:
„Bist du der Tod?“
„Ja, das bin ich“, antwortete dieser, und der Schneider fuhr fort:
„Vorhin habe ich meinen Knecht auf den Markt geschickt, um Stoffe für mich zu besorgen. Voller Angst kam er zurück und erzählte mir, dass du seinetwegen hier gewesen bist und ihn seltsam angeschaut hast. Ist das die Wahrheit?“
„So ist es“, erwiderte der Tod. „Noch heute habe ich ein Treffen mit ihm, aber nicht hier in Bagdad und nicht jetzt. Deshalb schaute ich ihn verwundert an. Erst heute Abend bin ich mit ihm in Samara verabredet.“
Der Tod ist ein guter Hirte, der niemals seine Schafe vergisst.