Märchenreihe Maghreb #4 – Das Gebet
Jeden Freitag stellt uns der Geschichtenerzähler und Autor Naceur-Charles Aceval ein Märchen aus seinen Büchern vor und entführt uns mit seinen Geschichten und Weisheiten in die Märchenwelt des Maghreb.
„Menschen kommen, Menschen gehen! Allein das Wort reist und bleibt und erreicht immer sein Ziel.“ so fangen immer die Erzählungen von Naceur-Charles Aceval an, welche der Erzähler direkt aus dem Mund seiner Mutter gehört und die ihn von Kindheit an tief geprägt haben. Es sind die Geschichten und Märchen aus der Welt der Nomaden und dem Nomadenzelt seiner Kindheitstage und Vorfahren in den Hochebenen Algeriens, zwischen Meer und Wüste, zwischen Nomaden und Seßhaften, die direkt aus der mündlichen Erzähltradition des Maghreb entstammen.
Das Gebet
Aus dem Buch „Der Erzähler von Algier“, Oktober 2017, Papermoon-Verlag. Kostet 15,00€, Bestellung direkt bei Naceur-Charles Aceval.
Ein Knabe saß am Ufer eines großen Wassers auf einem Felsen und spielte auf seiner Flöte. Angezogen von der Musik, näherte sich in einem Boot ein alter Herr mit langem weißem Bart. Der Alte stieg aus, blieb in einigem Abstand stehen und hörte dem Jungen eine Weile zu. Als dieser zu Ende gespielt hatte, ging der Mann auf ihn zu und sprach: „Wunderbar, junger Mann! Dein Flötenspiel ist zauberhaft und gefällt mir sehr gut!“ Der Knabe bedankte sich und erwiderte:
„Ich spiele nicht wirklich, ich bete! Denn wenn ich auf meiner Flöte spiele, fühle ich mich Gott sehr nahe.“
„Wisse junger Mann, ich bin ein alter Gelehrter. Hunderte Male habe ich den Koran gelesen, tausende von Schülern unterrichtet und ihnen das richtige Beten beigebracht. Wenn du willst, kann ich es dich ebenfalls lehren.“ Der Knabe, ein lieber und wissbegieriger Junge, dachte bei sich, dass es nicht schaden könne, im richtigen Beten von einem so großen Meister unterrichtet zu werden und willigte ein.
Der alte Gelehrte erklärte dem Jungen einige Suren des Korans, die er auswendig lernen sollte, und zeigte ihm die Art und Richtung des Betens. Nachdem einige Stunden vergangen waren und der Junge sich als aufmerksamer und gelehriger Schüler erwiesen hatte, sprach der alte Meister:
„Schau, die Sonne geht bald unter! Ich muss nun gehen und bin froh, dass du die wichtigsten Dinge verstanden hast. Übe weiter, und du wirst großes Glück erfahren.“ Der alte Gelehrte bestieg sein Boot und ruderte über das große Wasser. Kaum hatte er sich drei- oder vierhundert Meter entfernt, da hörte er die Rufe des Jungen:
„Herr, kannst du mir noch einmal den letzten Satz der zweiten Sure wiederholen?“ Als der alte Mann sich umblickte, sah er zu seinem allergrößten Erstaunen, dass der Junge auf dem Wasser hinter ihm hergelaufen war.
„Junger Mann, vergiss bitte alles, was ich dir beigebracht habe und bete so, wie du immer gebetet hast“, entgegnete der Weise erschrocken. Der Junge kehrte zu seiner Flöte zurück, und der alte Herr ruderte über das große dunkle Wasser der Ungewissheit.