Märchenreihe Maghreb #3 – HABRA, die Tochter des Löwen
Jeden Freitag stellt uns der Geschichtenerzähler und Autor Naceur-Charles Aceval ein Märchen aus seinen Büchern vor und entführt uns mit seinen Geschichten und Weisheiten in die Märchenwelt des Maghreb.
„Menschen kommen, Menschen gehen! Allein das Wort reist und bleibt und erreicht immer sein Ziel.“ so fangen immer die Erzählungen von Naceur-Charles Aceval an, welche der Erzähler direkt aus dem Mund seiner Mutter gehört und die ihn von Kindheit an tief geprägt haben. Es sind die Geschichten und Märchen aus der Welt der Nomaden und dem Nomadenzelt seiner Kindheitstage und Vorfahren in den Hochebenen Algeriens, zwischen Meer und Wüste, zwischen Nomaden und Seßhaften, die direkt aus der mündlichen Erzähltradition des Maghreb entstammen.
HABRA, die Tochter des Löwen
Aus dem Buch „Der Mann, der nicht sterben wollte“, Oktober 2015, Papermoon-Verlag. Bestellung direkt bei Naceur-Charles Aceval.
Es war einmal, so erzählte mir meine Großmutter, ein Nomadenstamm, der seine Zelte neben einem kleinen Wald aufgeschlagen hatte. Die Männer kümmerten sich um die Tiere und die Frauen, wie fast überall auf dieser Welt, kümmerten sich um den Haushalt und die Kinder. Aber die Nomadenfrauen hatten gegenüber den ansässigen Frauen eine zusätzliche Aufgabe: Sie gingen einmal täglich auf die Felder um „Lugid“ zu sammeln. Lugid ist ein Nomaden-Wort, das alles beinhaltet, was man braucht um Feuer zu machen, getrocknete Sträucher, Reisig, Kamelkot und getrocknete Kuhfladen.
Eines Tages ging eine Frau mit ihrer kleinen Tochter, um Lugid zu sammeln. Obwohl jeder wusste, dass es wegen der wilden Tiere verboten war den Wald zu betreten, sagte sich diese Frau:
„Ach, ich geh‘ nur am Rande und hole mir ein bisschen Holz.“ Und so ging sie in den Wald hinein und sammelte Äste und machte lauter kleine Bündel. In ihrer Hast merkte sie nicht, dass sich ihre kleine Tochter im Wald verlaufen hatte. Zu spät! Sie rief ihren Namen, sie suchte überall. Die Männer vom Stamm eilten herbei, sie suchten und suchten, aber keiner fand sie. Spät am Abend gaben sie die Suche auf. Was für eine Tragödie für die Eltern und für den Stamm!
Das kleine Mädchen lief immer tiefer in den Wald und weinte. Ein alter hungriger Löwe hörte sie und sagte sich:
„Ach, Gott hat mir einen „Habra“ geschickt!“ Habra kann ich, liebe Zuhörer, mit „Leckerbissen“ übersetzen. Ihr solltet wissen, dass das zu einer Zeit war, als die Tiere noch sprechen konnten. Eines Tages sind sie verstummt, aber das ist eine andere Geschichte, die ich Euch ein anderes Mal erzählen werde. Das kleine Mädchen hatte noch nie einen Löwen gesehen. Sie dachte, es sei eine große Katze. Mit Tränen in den Augen, die kleinen Arme ausgestreckt, lief sie zu der
“großen Katze“, um Nähe und Schutz zu suchen. Bei ihrem Anblick hatte der Löwe Mitleid, sein Herz wurde weich. Ja, liebe Zuhörer, so ist das mit den Löwen, wenn sie alt werden… Er sagte sich, um sich selbst etwas vorzumachen:
„Ah, das kleine Mädchen ist ja nur Haut und Knochen. Ich nehme sie in meine Höhle, und wenn sie ein richtiger Habra geworden ist, dann werde ich sie verspeisen.“ Und so kam das kleine Mädchen in die Höhle des Löwen.
Die Zeit verging. Das Mädchen bekam den Namen Habra, Leckerbissen. Und Habra wurde die Tochter des alten Löwen und der alte Löwe wurde der Vater von Habra.
Eines Tages, lange Zeit später, sagte er alte Löwe mit trauriger Stimme zu seiner Tochter Habra:
„Mein Kind, komm her, ich muss Dir etwas sagen. Du sollst wissen, ich bin ein Löwe und gehöre in die Welt der Tiere. Und du bist ein Mensch. Ich habe Dich vor vielen Jahren im Wald gefunden. Du warst noch klein.“ Und er erzählte ihr die ganze Geschichte und sagte weiter:
„Und heute, mein Kind, bin ich alt und müde. Und ich spüre, dass ich bald diese Welt verlassen muss, daher möchte ich nicht, dass Du alleine zurückbleibst im Wald. Ich habe beschlossen Dich zu Deinem Stamm zu bringen. Ich weiß, wo das Zelt Deiner Eltern steht.“
Habra umarmte ihren Vater, den alten Löwen und sagte:
„Du bleibst immer mein Vater. Du warst immer so gut zu mir. Ich werde Dich jeden Tag besuchen kommen.“ Und so kam Habra zu ihren Eltern.
Die Zeit verging – ja, die Zeit! – die große Feindin, die uns manche Versprechen vergessen lässt! Die Besuche von Habra wurden immer seltener. Wenn der alte Löwe manchmal seine Tochter vermisste, am Abend, wenn es dunkel wurde, verließ er seinen Wald. Leise legte er sich neben das Zelt, in dem Habra wohnte, um ihre Stimme zu hören und zu wissen, dass es ihr gut ging. Eines Abends sprach sie von ihm, sie sagte:
„Mein Vater, der Löwe ist stark! Mein Vater, der Löwe ist mutig! Er gewinnt alle Kämpfe! Mein Vater, der Löwe ist schön.“ Wie glücklich war der alte Löwe zu wissen, dass seine Tochter Habra ihn nicht völlig vergessen hatte! An diesem Abend sprang der alte Löwe wie ein junger Löwe nach Hause – oh ja, manche Worte wirken wie ein Jungbrunnen.
Aber eines Abends, als der alte Löwe wieder einmal da lag, um die Stimme seiner Tochter zu hören, fragte eine Schwester von Habra:
„All‘ diese Jahre hindurch, die du bei diesem Tier verbracht hast – gab es da nichts, das dich gestört hat?“ Habra blieb einen Moment still, dann sagte sie: „Oh doch, da ist etwas…“ Der alte Löwe draußen spitzte die Ohren und fragte sich: „Was wird sie jetzt sagen?“ und Habra sagte:
„Oft, wenn er frühmorgens von der Jagd nach Hause kam, nachdem er rohes Fleisch gefressen hatte, und er sich neben mich hingelegt hat, um zu schlafen – da hat er fürchterlich aus dem Maul gestunken. Das war schrecklich. In dem Moment habe ich es gehasst, dass er mein Vater ist.“ Als der alte Löwe draußen diese Worte vernahm, spürte er, wie ein Pfeil sein Herz durchbohrte. Traurig und verletzt verschwand er in der Dunkelheit des Waldes. Ja, manche Worte können auch vernichtend wirken.
Bei ihrem nächsten Besuch fand Habra ihren Vater, den Löwen, traurig am Boden liegend vor und sie fragte ihn:
„Vater, was hast Du denn? Bist Du etwa krank?“ Da schaute der alte Löwe zu ihr hoch und sagte mit lauter Stimme:
„Habra! Siehst du diese Axt? Nimm‘ sie und schlag‘ mich hier auf die Stirn!“ – „Aber Vater, was sagst du da?“, erwiderte Habra, „Du weißt doch, ich kann dir niemals weh tun!“ Da brüllte der alte Löwe so laut, dass die Erde bebte:
„Habra, mach‘ was ich dir sage, sonst fresse ich dich auf!“ Habra bekam Angst und weinend nahm sie die Axt. Sie schlug zu und das Blut floss.
„Und jetzt“, sagte der alte Löwe weiter, „wirst du jeden Tag kommen, um meine Verletzung zu verarzten.“ Und so geschah es auch. Habra kam jeden Tag und sie verarztete und verarztete, bis die Verletzung völlig geheilt war.
Da fragte Habra, ihren Vater, wie schon oft zuvor:
„Vater, bitte, sag mir doch, was hat das für einen Sinn? Warum wolltest du, dass ich dich verletze und dich dann verarzte? Sag es mir, bitte!“ In diesem Moment stand der alte Löwe majestätisch auf und antwortete mit einem bekannten Spruch aus meinem Stamm, ein Spruch, der weitergegeben wurde von Tier zu Mensch, und als die Tiere verstummten, wurde der Spruch von Mensch zu Mensch weiter gegeben, und ich gebe ihn heute an Euch weiter:
– يا هبرة! كل جُرح يبرئ يا هبرة، غير جُرح الكلام، هذا ما يبرئ يا هبرة
oh, Habra, alle Verletzungen heilen eines Tages, oh Habra, nur die Verletzungen, die mit Worten zugefügt worden sind, diese Verletzungen heilen nie, oh Habra.“ So sprach der alte Löwe und so endet auch dieses Nomadenmärchen.