Märchenreihe Maghreb #23 – Der Sohn des Wesirs
Jeden Freitag stellt uns der Geschichtenerzähler und Autor Naceur-Charles Aceval ein Märchen aus seinen Büchern vor und entführt uns mit seinen Geschichten und Weisheiten in die Märchenwelt des Maghreb.
„Menschen kommen, Menschen gehen! Allein das Wort reist und bleibt und erreicht immer sein Ziel.“ so fangen immer die Erzählungen von Naceur-Charles Aceval an, welche der Erzähler direkt aus dem Mund seiner Mutter gehört und die ihn von Kindheit an tief geprägt haben. Es sind die Geschichten und Märchen aus der Welt der Nomaden und dem Nomadenzelt seiner Kindheitstage und Vorfahren in den Hochebenen Algeriens, zwischen Meer und Wüste, zwischen Nomaden und Seßhaften, die direkt aus der mündlichen Erzähltradition des Maghreb entstammen.
Der Sohn des Wesirs
Aus dem Buch „Der Erzähler von Algier“, Oktober 2017, Papermoon-Verlag. Kostet 15,00€, Bestellung direkt bei Naceur-Charles Aceval.
Um einen Tee zuzubereiten braucht man drei Dinge: Zeit, Glut und Freunde. Bevor sich ein Gast verabschiedet, sollte er mindestens drei Gläser Tee trinken. Man sagt, das erste Glas sei bitter wie das Leben, das zweite süß wie die Liebe, und das dritte Glas leicht wie der Tod. (Nomadenspruch)
In alten Zeiten lebte ein Wesir, der war nicht nur der Berater des Sultans, sondern sogar sein Freund. Als der Sultan nach einer schweren Krankheit starb, setzte man seinen Sohn, der noch ein Knabe war, auf den Thron.
Der Wesir brachte ihm alles bei, was er wusste und stand ihm zur Seite wie ein Vater, denn seine Ehe war kinderlos geblieben. Einmal in der Woche, am Abend, wie zu Lebzeiten des Sultans, vollzog der Wesir mit dem jungen Sultan ein Ritual: Schach spielen, Tee trinken, Weisheitsgeschichten erzählen und vor allem, was sehr beliebt bei Arabern und Nomadenstämmen ist: Rätselraten.
Die Frau des Wesirs hatte sich immer Kinder gewünscht, aber Ärzte und Heiler konnten ihr nicht helfen. Ihr blieb nur das Gebet.
Viele Jahre gingen ins Land. Als die Frau des Wesirs eines Morgens die Tür öffnete, fand sie einen Korb. Sie schaute hinein, und darin lag ein Baby. Vorsichtig blickte sie nach rechts und links, aber auf der Straße war niemand zu sehen. Schnell nahm sie das Baby auf den Arm, eilte ins Schlafgemach ihres Mannes und rief:
„Gott hat meine Gebete erhört! Schau , was vor unserer Türe lag!“
Der Wesir hatte zunächst große Mühe, seine Frau zu beruhigen. Dann sprach er nachdenklich:
„Vielleicht ist es das Kind einer armen Familie, die Mühe hat ihre Kinder zu versorgen und die von unserem sehnlichen Kinderwunsch wusste. Vielleicht hat man das Kind hier abgelegt, um ihm zu einer sicheren Zukunft zu verhelfen. Oder es könnte das Kind einer jungen Frau sein, die einen Fehler begangen hat und diesen Fehler verbergen will. Lass uns einige Zeit abwarten. Wenn sich niemand wegen des Kindes bei uns meldet, können wir es behalten und großziehen.“
Wochen und Monate vergingen, aber niemand wollte das Kind haben. Der Junge bekam nicht nur die Liebe seiner Adoptiveltern, sondern auch die beste Erziehung. Er besuchte die besten Schulen und wurde in alle Künste eingeführt.
Als junger Mann nahm ihn sein Vater zu den wöchentlichen Treffen mit dem Sultan und wurde in das schon erwähnte Ritual eingeweiht. Zuerst durfte er den Tee zubereiten und danach hörte er Weisheitsgeschichten. Später durfte er Rätsel lösen und sogar selbst Rätsel erfinden. Das machte er so gekonnt und geschickt, dass es dem jungen Sultan gefiel und ihn erfreute.
Aber nichts ist von Dauer. Eines Tages geschah, was geschehen musste. Es gab großen Streit zwischen Vater und Sohn. In einem Anfall von Wut sagte der Wesir:
„Durch dein Benehmen wird klar, dass du nur ein Findelkind bist, vielleicht der Sohn eines Bauern oder eines Landstreichers!“
Diese Worte waren für den Jungen wie ein Schlag ins Gesicht. Er blieb kurz wie versteinert stehen, dann rannte er fort. Schon bereute der Wesir seine Worte zutiefst, aber es ist so, wie Sprichwort sagt:
„Worte sind wie Gewehrkugeln. Einmal aus dem Lauf gefeuert, gibt es kein Zurück mehr.“
Von nun an ließ der Junge seiner Mutter keine Ruhe. Er fragte sie solange aus, bis sie zugab, dass er ein Findelkind war. Sie erzählte ihm die Geschichte und fügte hinzu:
„Mein Junge, du bist nicht Bein von meinem Bein, du bist nicht Blut von meinem Blut, du bist nicht unter meinem Herzen geboren. Aber du bist in ihm gewachsen, und ich liebe dich, wie nur eine Mutter lieben kann.“
In dem angenommenen Sohn war dennoch etwas zerbrochen. Er hatte geglaubt, ein Adeliger zu sein, der Sohn des zweitmächtigsten Mannes im Land, der Sohn liebender Eltern. Von diesem Tag an entwickelte er einen tiefen Hass gegenüber seinem Vater. Wenn dieser auf Reisen war, versuchte er ihn während der abendlichen Treffen beim Sultan durch üble Nachrede schlecht zu machen. Jeden Tag versuchte er Gift in die Seele des Sultans einfließen zu lassen, und leider gelang es ihm auch. Als der junge Mann spürte, dass die Zeit reif war, sagte er zum Sultan:
„Mein Vater versucht, dich vom Thron zu drängen und mich einzusetzen. Ich aber bin dir ein treuer Untertan. Nur solltest du sehr schnell handeln.“
Da sprach der Sultan:
„Was soll ich tun, um deinen Vater zu vernichten?“
„Mein Sultan, gib‘ ihm ein Rätsel auf. Wenn er es nicht lösen kann, lass ihn töten.“
„Aber welches Rätsel? Wie du weißt, ist dein Vater sehr geschickt.“
In diesem Augenblick begann das Teewasser im Kessel zu pfeifen.
„Frage meinen Vater, was das Wasser im pfeifenden Kessel singt. Es wird ihm unmöglich sein, die Lösung zu finden.“ Der hinterlistige junge Mann verriet dem Sultan die Lösung, und dieser war zufrieden, weil die Antwort höchst schwierig war. Als Vater und Sohn eines Abends wieder einmal beim Sultan waren, konfrontierte dieser seinen Wesir mit großen Anschuldigungen. Der Wesir durchschaute die Lage sofort. Es war ihm nicht entgangen, dass der Sultan sich mehr und mehr von ihm entfremdet hatte. Auch der Verrat seines Sohnes war ihm nicht verborgen geblieben. Aber er hatte niemals gedacht, dass dieser so weit gehen würde. Unglücklich lauschte er den Worten des Sultans ohne Widerworte.
„Wesir“, sprach der Sultan, „ich gebe dir noch eine Chance, deinen Kopf zu retten. Löse mein Rätsel binnen dreier Tage, und ich werde dich begnadigen. Löst du es nicht, so sei Gott deiner Seele gnädig!“
In diesem Augenblick begann das Teewasser mit dem üblichen pfeifen zu kochen.
„Sage mir, Wesir, was das kochende Wasser in diesem Teekessel singt. Du hast drei Tage Zeit, mir die Antwort zu überbringen.“ Ohne ein Wort zu sagen, ging der Wesir nach Hause. Er dachte nach, fand aber keine Lösung.
Endlich fiel ihm ein alter Freund ein, ein Weiser, der sehr bekannt für sein Geschick und seinen Scharfsinn war. Am nächsten Tag nahm der Wesir sein Pferd und machte sich frühmorgens auf den Weg. Bei seiner Ankunft am Nachmittag war sein Freund jedoch nicht zu Hause. Nur seine Tochter war anwesend und berichtete, ihr Vater sei für einige Tage verreist. Sie bat den Wesir ins Haus, gab ihm etwas zu trinken und setzte Teewasser auf. Dann sagte sie:
„Lieber Onkel, du siehst besorgt aus.“
„Ja, das bin ich. Allerdings hoffte ich, dass dein Vater mir helfen könnte.“
„Erzähle mir von deinen Sorgen“, schlug das Mädchen vor. „Ich bin die Tochter eines Gelehrten.“ Der Wesir erzählte ihr die Geschichte von seinem Adoptivsohn, dem Streit mit ihm, von der Intrige beim Sultan, bis zu dem Rätsel, das er lösen musste, um sein Leben zu retten.
„Wie lautet das Rätsel?“, fragte die Tochter des Freundes. In diesem Augenblick begann der Teekessel zu pfeifen. Da lächelte der Wesir und sprach:
„Wenn du mir sagen kannst, was das Wasser im Kessel spricht, wäre mir wirklich geholfen.“
Das Mädchen dachte nach und bereitete den Tee zu. Beide tranken das erste Glas, ohne zu reden. Nach dem zweiten Glas jubelte das Mädchen:
„Ich weiß die Antwort, lieber Onkel! Wahrscheinlich gibt es mehrere Lösungen für dein Rätsel. Aber eine, die zu dir und deiner Geschichte passt, habe ich gefunden.“ Sie verriet ihm die Lösung, und der Wesir war sehr zufrieden. Nachdem er sein drittes Glas Tee getrunken hatte, ritt er erleichtert nach Hause.
Am nächsten Tag begab er sich zum Sultan und sprach:
„Mein Sultan, bevor ich die Lösung preisgebe, habe ich eine Bitte. Ich möchte, dass mein Sohn anwesend ist und dass wir gemeinsam Tee trinken. Vielleicht ist es das letzte Mal.“
So geschah es, und das Teewasser wurde aufgesetzt. Der Wesir nahm sich Zeit, lief hin und her, und es war sehr still im Raum. Als das Wasser kochte und der Kessel anfing zu pfeifen, sagte er:
„Das Wasser singt kein fröhliches Lied. Es ist eher ein Klagelied:
– من السماء هويت، فوق الارض توطّيت، والعود اللي زڤيت راني بيه اتّكويت
„Vom Himmel kam ich als Regen, für die Erde war ich ein Segen, der Ast, den ich ernährt: von ihm werde ich nun verzehrt.“
Nach diesen Worten durchschaute der Sultan plötzlich alles.
Der Schleier der Verblendung fiel von seinen Augen, und das Gift der Lügen hatte keine Wirkung mehr über ihn. Er erkannte, dass der Sohn des Wesirs ihn über Monate hinweg belogen und hintergangen hatte.
„Verräter am eigenen Vater!“, rief er verächtlich aus. „Auf deine Tat gibt es nur eine angemessene Strafe: den Tod. Ich werde es deinem Vater überlassen, dich zu richten und meine kostbare Zeit nicht mehr mit dir vergeuden!“
Wütend und enttäuscht verließ der Sultan den Raum.
Der Vater aber sprach mit trauriger Stimme:
„Sohn, Allah allein ist dein Richter. Nur eines solltest du tun: Verlass dieses Land! Nimm ein Pferd und so viel Gold, wie du brauchst, aber geh‘!“
So wurde der Sohn des Wesirs verbannt und zog von da an mit seinem Pferd ruhelos durch die Lande.
Der Wesir blieb lange Zeit stehen und dachte darüber nach, welche Wirkung Worte haben können, die unbedacht ausgesprochen werden.