Märchenreihe Maghreb #22 – Die Liebe eines Schmetterlings
Jeden Freitag stellt uns der Geschichtenerzähler und Autor Naceur-Charles Aceval ein Märchen aus seinen Büchern vor und entführt uns mit seinen Geschichten und Weisheiten in die Märchenwelt des Maghreb.
„Menschen kommen, Menschen gehen! Allein das Wort reist und bleibt und erreicht immer sein Ziel.“ so fangen immer die Erzählungen von Naceur-Charles Aceval an, welche der Erzähler direkt aus dem Mund seiner Mutter gehört und die ihn von Kindheit an tief geprägt haben. Es sind die Geschichten und Märchen aus der Welt der Nomaden und dem Nomadenzelt seiner Kindheitstage und Vorfahren in den Hochebenen Algeriens, zwischen Meer und Wüste, zwischen Nomaden und Seßhaften, die direkt aus der mündlichen Erzähltradition des Maghreb entstammen.
Die Liebe eines Schmetterlings
Aus dem Buch „Der Erzähler von Algier“, Oktober 2017, Papermoon-Verlag. Kostet 15,00€, Bestellung direkt bei Naceur-Charles Aceval.
Jung bin ich groß, alt bin ich klein, die Nacht sieht meinen hellen Schein, jeder Windhauch ist mein Feind. Was bin ich?
An einem späten Sommernachmittag machte ein Schmetterlingsschwarm auf einem Hibiskus Strauch Rast für die Nacht. Nicht allzu weit entfernt lag eine Holzhütte unter einem großen Baum. Eine Kerze strahlte ihr zartes, weiches Licht aus dem Fenster der Hütte. Die Schmetterlinge hatten so etwas Schönes noch nie gesehen, und fast einstimmig riefen sie:
„Oh, welch eine Schönheit!! Der Körper ist weiß und schmal, und das Haupt strahlt Wärme und Licht aus!“ Alle waren verliebt. Die jungen Schmetterlinge flatterten mit klopfendem Herzen in die Luft und dachten an Eroberung. Die alten waren traurig- allein wegen ihres Alters.
Der älteste Schmetterling namens “Chibani“ (auf Arabisch „der Alte“)sprach: “ Wahrlich, so etwas Schönes haben meine alten Schmetterlingsaugen noch nie erblickt.“ Er schaute zu den jungen Schmetterlingen zu, bemerkte ihre Unruhe und sprach:
„Oh Kinder, die Liebe, die Liebe… Wer liebt, sollte der Geliebten näher kommen.“
Da rief ein junger Schmetterling:
„Ich werde sie besuchen!“
Er flog zu ihr und setzte sich auf den Fensterrand. Eine Weile schaute er die Schönheit liebevoll an. Dann aber kam ein Windstoß durch das offene Fenster und setzte die Flamme in Bewegung. Diese wiederum verursachte ein Schattenspiel auf der Wand. Der junge Schmetterling erschrak und flog mit klopfenden Herzen zurück.
„Uff! Uff! Sie ist zehnmal, nein hundertmal schöner aus der Nähe! Aber ich wusste nicht, dass die Liebe so viel Angst macht.“
Da sprach Chibani:“ Für meinen Geschmack warst du nicht nahe genug.“
Ein zweiter junger Schmetterling sprach:
„Ich werde noch näher heran fliegen, denn ich liebe sie wie kein anderer“.
Er flog in den Raum hinein, drehte sich um ihr Haupt und verbrannte sich leicht den rechten Flügel. Ein Schmetterlingsschrei entfuhr seinem Mund, und er flog eilend zurück.
„Aua! Aua! Von dort, wo ich war, ist sie nicht hundertmal, sondern tausendmal schöner. Aber ich wusste nicht, dass die Liebe so schmerzt“.
„Du warst deiner Liebe schon sehr nah“, sprach der älteste Schmetterling, „aber ich vermag nicht zu sagen, ob du uns etwas Neues über die Liebe berichten kannst.“
Plötzlich flog ein älterer Schmetterling los, ohne ein Wort zu sagen, denn die Liebe bedarf meistens keiner Worte. Er flog in den Raum, drehte sich um die Flamme ,blieb eine Weile flatternd vor ihr in der Luft stehen und umarmte die Schönheit zärtlich mit seinen Flügeln .Im gleichen Augenblick fiel der arme verletzte Schmetterling ihr zu Füßen. Rauch stieg empor.
Alle anderen Schmetterlinge hatten das Geschehen mitbekommen.
„Er, nur er“, sprach der älteste Schmetterling , „war der Liebe so nah wie kein anderer, denn ohne sie konnte er nicht leben. Nur er hat erfahren, was wir nie erfahren werden.“
Lieber Leser, mein Großvater, der ein Chibani war, kannte ein Gedicht, das ich oft in meinem Stamm gehört habe:
يا شعال النار بالمسمار، إذا ساط الريح زيدها. اللي يبغي حبيبو يطيح عليه في النار، وما الجنة ڤاع الناس تريدها
„Wächter des Feuers,
lass den Wind die Flamme schüren.
Wer liebt, soll dem Geliebten bis ins Höllenfeuer folgen.
Im Paradies zu lieben ist jedermann gegeben“