Märchenreihe Maghreb #21 – Das Mantra
Jeden Freitag stellt uns der Geschichtenerzähler und Autor Naceur-Charles Aceval ein Märchen aus seinen Büchern vor und entführt uns mit seinen Geschichten und Weisheiten in die Märchenwelt des Maghreb.
„Menschen kommen, Menschen gehen! Allein das Wort reist und bleibt und erreicht immer sein Ziel.“ so fangen immer die Erzählungen von Naceur-Charles Aceval an, welche der Erzähler direkt aus dem Mund seiner Mutter gehört und die ihn von Kindheit an tief geprägt haben. Es sind die Geschichten und Märchen aus der Welt der Nomaden und dem Nomadenzelt seiner Kindheitstage und Vorfahren in den Hochebenen Algeriens, zwischen Meer und Wüste, zwischen Nomaden und Seßhaften, die direkt aus der mündlichen Erzähltradition des Maghreb entstammen.
Das Mantra
Aus dem Buch „Der Erzähler von Algier“, Oktober 2017, Papermoon-Verlag. Kostet 15,00€, Bestellung direkt bei Naceur-Charles Aceval.
Mohan, der Weise, hatte einen langen weißen Bart.
Er war viel in der Welt herumgekommen und befand sich stets auf der Spur von Weisheitslehrern.
Er besuchte heilige Orte und Gräber, um eine Verbindung mit der unsichtbaren Welt aufzunehmen.
Mohan war ein alter Mann. Er wohnte in einer ärmlichen Holzhütte am Hang des großen weißen Berges.
Jeden Tag sprach er zu hungrigen Schülern und zeigte ihnen, wie man in der Dunkelheit seinen Weg findet.
Der Meister hatte einen jungen Diener namens Nasrallah. Diesen hatte er eines Tages am Rande eines Weges halb verhungert, um nicht zu sagen halb tot, gefunden, bei sich aufgenommen und gesund gepflegt.
Nasrallah hielt die Hütte des Meisters sauber, holte Wasser, hackte Holz, hielt den Staub fern von den alten Büchern, die er selbst nicht lesen konnte.
Wenn die Schüler kamen, füllte der Diener Weihrauch in schöne Gefäße, bereitete Tee zu und hörte aus angemessenem Abstand dem weisen Lehrer zu.
Nasrallah hatte einen Traum: er schloss oft die Augen und träumte, dass der Meister ihm die Hand auf seinen Kopf legen und ihm ein Mantra schenken würde, diese heiligen Sätze oder Worte, welche die Menschen ein Leben lang begleiteten.
Lange Jahre erfüllte dieser Traum sich nicht. Aber Nasrallah war zufrieden, dem heiligen alten Mann zu dienen. Er konnte die Gedanken des Meisters lesen, und bevor dieser gesprochen hatte, war sein Wunsch schon erfüllt. Nasrallah war immer einen Schritt voraus. Mohan, der Weise, fühlte sich oft eingeschränkt, manchmal sogar verärgert über diese übertriebene Aufmerksamkeit.
Eines Abends ging der Meister früh zu Bett, denn er fühlte sich nicht wohl. Der besorgte Diener nahm eine Decke und legte sich vor der Tür des Meisters schlafen, um notfalls in seiner Nähe zu sein.
Nach Mitternacht eilte Mohan, der Weise, nach draußen, drückte seine beiden Fäuste gegen die Rippen und fühlte dabei einen starken Schmerz im Leib. Schließlich stolperte er über seinen Diener, fiel hart auf die Knie und versuchte, im Dunkeln tastend, zu fühlen, was geschehen war. Plötzlich berührte der Meister Nasrallahs Kopf und rief erbost:
„Oh mein Gott, du immer du“ und eilte nach draußen um sich zu erleichtern.
Nasrallah kniete am Boden, Tränen in den Augen, hob seine Hände zum Himmel und sagte:
“Danke, Meister, danke, für das lang ersehnte Mantra. Oh Gott, du immer du!“ Er sagte es wieder und immer wieder und fühlte eine große innere Freiheit. Er sang immer wieder nur dieses eine Mantra, bis es hell wurde. Dann machte er sich auf den Weg nach Osten, dem Sonnenaufgang entgegen. Nichts nahm er mit, nur dieses eine Mantra: “Oh mein Gott, du immer du“. Mit strahlendem Gesicht, seine Haare im Wind, lief er die Straßen und Felder entlang und sang immer wieder: “Oh mein Gott, du immer du“. Von manchen Menschen bekam er trockenes Brot oder Datteln. Er schlief nur noch draußen hinter Felsen oder unter Bäumen.
Eines Tages erreichte Nasrallah ein kleines Dorf. Dort fand er Menschen in tiefer Trauer. Eine Witwe hatte ihren einzigen Sohn verloren. Man hielt den Mann Gottes am Ärmel fest, zog ihn ins Haus und bat ihn, mit der Mutter ein Gebet zu sprechen.
Nasrallah kniete neben dem leblosen kleinen Körper. Die Mutter saß weinend gegenüber. Nasrallah legte seine Hand auf die Brust des Toten und sprach: “Oh mein Gott, du immer du“. Die Mutter schaute ihn verwundert an und Nasrallah erklärte:
„Es tut mir leid, liebe Frau, ich kann nicht beten, sondern nur dieses eine Mantra, es ist mein ganzes Leben.“
„Oh mein Gott, du immer du“ fuhr er weiter fort, und es klang wie ein schöner Gesang.
Plötzlich öffnete das Kind die Augen, setzte sich im Bett auf und lächelte. Die Männer und Frauen im Raum schauten sich verwundert an, schrien, lachten, weinten und umarmten sich: “Er lebt, er lebt!!“. Die Mutter fiel zu Boden und küsste Nasrallahs verstaubte Sandalen. Alle eilten zu ihm, wollten diesen heiligen Mann berühren und von ihm gesegnet werden.
„Liebe Leute“, sagte Nasrallah, „ihr müsst nicht mir danken. Dieses Mantra, das mir den Himmel öffnete, habe ich von meinem Meister Mohan, dem Weisen, erfahren. Er wohnt am Hang des großen weißen Berges. Zu ihm müsst ihr gehen, und ihm müsst ihr euren Dank sagen. Grüßt ihn von Nasrallah, seinem Diener, und erzählt ihm, dass sein Leben wichtiger sei als meines. Und jetzt lasst mich gehen, denn ich muss weiter wandern.“
Am nächsten Morgen machte sich eine Schar von Menschen, beladen mit kostbaren Geschenken, auf den Weg zum Meister. Dieser empfing sie freundlich, und er erfuhr etwas Außerordentliches von Nasrallah, seinem Diener nämlich, wie er den Toten zum Leben erweckt hatte. Der Meister hörte noch eine Weile zu und wartete, bis die Menschen sich auf den Rückweg machten. Einige Zeit blieb er still, stand schließlich auf, nahm seinen Stock und lief dem Sonnenuntergang entgegen, in Richtung der Berge, die zum Himmel führen und sprach: „Ich muss wohl noch ein Stück wandern.“