Märchenreihe Maghreb #2 – Gast Gottes (Diaf Rabi)
Gast Gottes – Diaf Rabi
Aus dem Buch „Kleine Märchen, große Weisheiten“, Mai 2017, Papermoon-Verlag. Bestellung direkt bei Naceur-Charles Aceval.
Hier finden Sie auch das Portrait über den Märchenerzähler Naceur Charles Aceval.
Dies ist eine Geschichte über die Gastfreundschaft. Eine Geschichte, die ich als Kind sehr oft von meiner Mutter gehört habe. Diese Geschichte hat, wie viele andere Märchen, mein Leben nicht nur geprägt, sondern auch begleitet. Ich habe sie auf Französisch und Deutsch übersetzt, aber den arabischen Titel habe ich als Erinnerung an meine Mutter beibehalten. Sie trägt den Titel „Diaf Rabi“. Wortwörtlich übersetzt, heißen diese beiden Wörter „Gast Gottes“. Es ist ein Ruf – ein heiliger Ruf. Wenn ein Fremder, ein Reisender sich einem Zelt oder einer Behausung nähert, bleibt er in einem bestimmten Abstand stehen, so dass man ihn hört. Dann tut er diesen heiligen Ruf „Diaf Rabi, Gast Gottes“. Der Fremde will damit unter anderem sagen: „ Ihr Leute, haltet eure Hunde zurück. Ich habe keine bösen Absichten. Gott hat meine Schritte hierher geführt. In seinem Namen bitte ich euch um Gastfreundschaft, um Asyl.“ Und jeder, der diesen heiligen Ruf hört, befindet sich sofort in der Verpflichtung, diesem Reisenden, diesem Fremden seine Gastfreundschaft zu erweisen, oder ihm Asyl zu gewähren. Nun aber hört die Geschichte von Khaled ould Ahmed, dem Nomaden. Sie drückt mehr aus als alle meine Worte.
Beschütze den Flüchtigen und gewähre ihm Gastfreundschaft und Asyl.
Die Nächstenliebe sollte nicht nur ein leeres Wort bleiben.„
إذا هو مظلوم هارب وخايف ديرو تحت جناحك ،
هاذا ضيف ربي
الرحمة ماهيش غير كلمة
In alten Zeiten lebte ein Nomade namens Khaled ould Ahmed mit seiner Frau und seinen Kindern in einem kleinen Nomadenzelt. Er war arm, aber keineswegs unglücklich. Es zeichneten ihn seine Liebe zu den Menschen, seine Hilfsbereitschaft und seine Gastfreundschaft aus. Kein Fremder kam an seinem Zelt vorbei, ohne etwas zu erhalten, sei es Kaffee, Tee, eine Mahlzeit oder auch nur einige getrocknete Datteln. Dieser Nomade teilte das Wenige, das er besaß, gern mit den noch Ärmeren und Bedürftigeren. Wenn die Menschen von ihm sprachen, sagten sie: „Khaled ould Ahmed ist Gott sehr nahe, denn er liebt die Menschen.“
Der allmächtige Gott, dem nichts verborgen bleibt, wollte Khaled belohnen und sandte den Engel Gabriel mit der Botschaft zu ihm, dass er sieben Jahre lang einen großen Reichtum erwerben und sich aussuchen könne, ob dies in seinen jüngeren oder späteren Jahren geschehen sollte. Der Engel erschien Khaled im Traum, überbrachte ihm die Botschaft und sprach:
„Überlege genau, ich komme morgen wieder. Dann sage mir, ob du den Reichtum jetzt oder später haben möchtest.“
Am nächsten Morgen erzählte Khaled seiner Frau von diesem seltsamen Traum. Ohne lange zu überlegen, sagte diese zu ihm:
„Wenn du meinen Rat befolgen willst, nimm den Reichtum jetzt, solange unsere Kinder klein sind. Wir sind noch jung und können so den Ärmsten besser und länger helfen.“ Tatsächlich erhielt Khaled ould Ahmed bald, nachdem er noch einmal mit Engel gesprochen und ihm seinen Wunsch mitgeteilt hatte, einen großen Reichtum. Er ließ zwei große Zelte neben seinem kleinen Zelt aufbauen. Eines, um Mahlzeiten für die Hungrigen zuzubereiten und das andere als Nachtlager für die müden Reisenden. Es kamen viele Menschen. Manche nahmen sogar einen großen Umweg in Kauf, um ein gutes Couscous zu essen und auszuruhen.
Die sieben Jahre vergingen schnell, und es kam der Tag, an welchem der Engel Gabriel den geliehenen Reichtum wieder zu sich holen sollte. Als er eben seinen Arm ausstreckte, um den Reichtum wieder fortzunehmen, kam ein Reisender in die Nähe des Zeltes und rief: „Diaf Rabi!“ Khaled, der Nomade, forderte ihn auf hereinzukommen, mit den Worten: „Tritt ein in das Haus Gottes.“ Erschrocken, zog der Engel seinen Arm zurück und beschloss zu warten, bis der Gast gegangen war. Dann streckte der Engel Gabriel erneut seinen Arm aus, doch schon kam der nächste Gast, und danach noch einer und noch einer,… bis der Tag vergangen war. Da sagte sich der Engel: Ich komme erst morgen wieder. Aber am nächsten Tag geschah dasselbe, am übernächsten auch, und so ging es sieben Tage weiter.
Da fragte Gott seinen Engel: „Hast du vergessen, deinen Auftrag auszuführen und den Reichtum des Nomaden zu holen?“ Der Engel antwortete:
„Jedes Mal, wenn ich den Reichtum gerade zu mir nehmen wollte, kam ein Gast und rief ‚Diaf Rabi‘ und der Nomade antwortete: ‚Tritt ein in das Haus Gottes‘. Oh Herr, ich kann nicht zu mir nehmen, was in deinem Namen aufgebaut wurde und was dir gehört.“
„Wenn es so ist“, sprach Gott, „ soll der Mann den Reichtum für immer behalten.“
Und so blieben der Nomade und seine Frau reich, solange sie lebten, und indem sie die Ärmsten beschenkten.
Ich wünsche uns allen, liebe Leser und Leserinnen, dass wir niemals vergessen, dass wir nur Gäste sind auf dieser Welt.