Märchenreihe Maghreb #19 – Der Kaufmann und der Papagei
Jeden Freitag stellt uns der Geschichtenerzähler und Autor Naceur-Charles Aceval ein Märchen aus seinen Büchern vor und entführt uns mit seinen Geschichten und Weisheiten in die Märchenwelt des Maghreb.
„Menschen kommen, Menschen gehen! Allein das Wort reist und bleibt und erreicht immer sein Ziel.“ so fangen immer die Erzählungen von Naceur-Charles Aceval an, welche der Erzähler direkt aus dem Mund seiner Mutter gehört und die ihn von Kindheit an tief geprägt haben. Es sind die Geschichten und Märchen aus der Welt der Nomaden und dem Nomadenzelt seiner Kindheitstage und Vorfahren in den Hochebenen Algeriens, zwischen Meer und Wüste, zwischen Nomaden und Seßhaften, die direkt aus der mündlichen Erzähltradition des Maghreb entstammen.
Der Kaufmann und der Papagei
Aus dem Buch „Kleine Märchen, große Weisheiten“, Mai 2017, Papermoon-Verlag. Bestellung direkt bei Naceur-Charles Aceval.
Es war einmal ein reicher Kaufmann, der lebte mit seiner Frau, seinen Kindern und seinen Dienern in einem großen und schönen Haus. Er besaß viele wunderbare Dinge, die er von seinen Reisen in ferne Länder und Städte mitgebracht hatte. Aber unter all diesen schönen Sachen hatte er eine am liebsten: Einen Papagei, den er in Indien gefangen hatte. Dieser Papagei war nicht wie die anderen. Er konnte sprechen, nicht nur Wörter wiederholen. Er besaß sogar das Talent eines Erzählers, sagte man, aber seine größte Begabung war das Singen. Seine Lieder waren jedoch traurig und nostalgisch. Er besang seine Gefangenschaft, die Seinen und sein Heimweh. Er vermisste seine Eltern, seine Freunde und seine Familie so sehr.
Eines Tages musste der Kaufmann eine Geschäftsreise nach Indien antreten. Er fragte seine Familie und seine Dienerschaft, ob sie einen Wunsch hätten, etwa Parfüm, Stoffe und andere schöne Dinge, die man in dieser Zeit nur in Indien fand. Natürlich vergaß er auch nicht seinen „lieben Freund“, wie er seinen Papagei gerne nannte, zu fragen.
„Lieber Freund, ich werde morgen meine Reise nach Indien antreten. Möchtest du etwas aus deiner Heimat haben?“ Der Papagei sagte zu ihm:
„Ich habe alles, was ich brauche. Du weißt, was mein größter Wunsch ist: Meine Freiheit! Bitte gib sie mir. Nimm mich mit zu meinen Eltern, die ich so sehr vermisse. Das wäre das schönste Geschenk, das du mir machen könntest.“
„Oh nein! Unmöglich, lieber Freund!“ ,antwortete der Kaufmann, „du bist mir das Wertvollste, das ich habe und ich kann mich nicht von dir trennen.“
Der Papagei überlegte kurz und sagte: „Falls du mir eine Gefälligkeit erweisen willst, wenn du in Indien bist, dann geh zum Baum der Papageien, dahin, wo du mich gefangen hast. Überbringe meine Grüße und sage den Papageien, meinen Eltern und Freunden, dass ich lebe und dass ich sie sehr vermisse, aber dass es mir an nichts fehlt. Sag´, dass ich sie leider nicht besuchen kann, da ich in Gefangenschaft lebe.“ Der Kaufmann versprach seinen Wunsch zu erfüllen.
Nachdem er seine Geschäfte und auch seine Einkäufe erledigt hatte und auf dem Rückweg war, ging der Kaufmann zum Baum der Papageien und rief:
„Euer Sohn, Bruder und Freund schickt euch Grüße! Er lässt euch sagen, dass es ihm gut geht, dass er euch vermisst, aber er kann euch nicht besuchen, da er bei mir in einem goldenen Käfig lebt und ich kann ihn nicht ziehen lassen, da er mir alles bedeutet.“ Es herrschte einen Moment Stille und plötzlich fiel ein Papagei vom Baum vor die Füße des Kaufmanns: tot!
„Oh, mein Gott! Das muss ein enger Familienangehöriger sein, womöglich seine Mutter oder sein Vater! Die Nachricht war sicher zu hart“, sagte sich der Kaufmann.
Als er nach seiner Rückkehr alle Geschenke verteilt hatte, zögerte der Kaufmann zuerst, ehe er sich entschloss zu seinem Papagei zu gehen und ihm zu erzählen, was sich am Baum der Papageien zugetragen hatte. „Lieber Freund, ich habe eine schlechte Nachricht für dich. Ich habe am Papageienbaum deine Nachrichten übermittelt, aber danach fiel ein Papagei tot vom Baum. Ich weiß leider nicht, wer das war.“ Sein Papagei stieß einen schrillen Schrei aus und fiel ebenfalls von der Stange: tot! Der Kaufmann hob seine Arme zum Himmel und rief:
„Oh, mein Gott, was habe ich getan! Das hätte ich ihm nicht sagen dürfen, jetzt habe ich meinen lieben und wunderbaren Freund verloren!“ Voller Trauer holte er den leblosen Papagei aus dem Käfig heraus, umwickelte ihn mit einem Seidentuch und legte ihn in eine Schachtel. Er trug ihn behutsam in den Garten, stellte die Schachtel auf eine Holzbank und fing an neben den schönsten Blumen ein Loch zu schaufeln. Plötzlich stellte sich der Papagei auf die Beine, schüttelte sich und flog auf den nächsten Ast eines Baumes.
„Du bist ja gar nicht tot!“, rief der Kaufmann.
„Nein, wie du siehst, bin ich sehr lebendig und mein Bruder, der vor deine Füße fiel, ist auch nicht tot. Damit hat er mir gezeigt, wie ich die Freiheit wieder erlangen kann. Ich danke dir dafür, „lieber Freund“, wie du gerne sagst.“ Der Kaufmann flehte ihn an:
„Bitte, komm zu mir zurück – du bekommst von mir alles, was du willst!“ Der Papagei zog mit seinem Schnabel eine bunte Feder aus seinem Flügel, ließ sie herabfallen und sprach:
„Oh, du hast gar nicht verstanden, worum es geht. Aber trag` diese Feder immer bei dir und jedes Mal, wenn du sie anschaust, denke an die zwei Sprüche, die ich dir jetzt sagen werde. Der erste lautet: „Wenn man einen Freund hat, jemanden, den man liebt, sollte man ihn niemals gefangen halten.“ Und der zweite: „Ein Leben ohne Freiheit ist kein Leben.“ Danach flog der Papagei hoch in den blauen Himmel in Richtung Indien und sang zum ersten Mal nach langer Zeit wieder ein fröhliches Lied.