Märchenreihe Maghreb #18 – Das Auge
Jeden Freitag stellt uns der Geschichtenerzähler und Autor Naceur-Charles Aceval ein Märchen aus seinen Büchern vor und entführt uns mit seinen Geschichten und Weisheiten in die Märchenwelt des Maghreb.
„Menschen kommen, Menschen gehen! Allein das Wort reist und bleibt und erreicht immer sein Ziel.“ so fangen immer die Erzählungen von Naceur-Charles Aceval an, welche der Erzähler direkt aus dem Mund seiner Mutter gehört und die ihn von Kindheit an tief geprägt haben. Es sind die Geschichten und Märchen aus der Welt der Nomaden und dem Nomadenzelt seiner Kindheitstage und Vorfahren in den Hochebenen Algeriens, zwischen Meer und Wüste, zwischen Nomaden und Seßhaften, die direkt aus der mündlichen Erzähltradition des Maghreb entstammen.
Das Auge
Aus dem Buch „Kleine Märchen, große Weisheiten“, Mai 2017, Papermoon-Verlag. Bestellung direkt bei Naceur-Charles Aceval.
Einst lebte ein reicher Händler, der viele Länder und Städte dieser Welt bereist hatte. Seine größte Leidenschaft war das Sammeln von seltenen und außergewöhnlichen Gegenständen.
Als der Händler ein bestimmtes Alter erreicht hatte, setzte er sich zur Ruhe. Aber kaum waren zwei, drei Monate vergangen, begann er sich zu langweilen. Eines Tages sagte er sich:
„Ein zufriedener Mensch gleicht einem toten Menschen. So alt bin ich noch nicht und es muss irgendetwas geben, dass ich noch nicht besitze und ich werde es herausfinden.“ Dieser Gedanke ließ ihm keine Ruhe und so beschloss er auf Reisen zu gehen.
Nach einiger Zeit stand eine kleine Karawane mit Kamelen und drei Dienern bereit. So reiste er von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, besuchte viele Geschäfte, immer auf der Suche nach dem einzigartigen Gegenstand. Manchmal nahm er Dinge in die Hand, freute sich und stellte dann fest, dass er diese schon kannte oder selbst besaß. Enttäuscht ging er wieder weiter auf die Suche. So vergingen Tage, Wochen, Monate, ja, sogar Jahre.
Eines Tages kam er in ein kleines Dorf. Er lief durch die Gassen und erblickte von Ferne ein Antiquitätengeschäft. Ohne viel Hoffnung ging er hin, betrat den Laden und sah auf einem Tisch verschiedene Gegenstände liegen. Sein Expertenblick fiel auf ein besonderes Stück: ein Auge aus Porzellan, gebetet in ein Seidentuch. Dieses Auge schien ihn anzublicken, ja, er meinte sogar zu hören, wie es zu ihm sagte:
„Kaufe mich, bitte kaufe mich! Ich gehöre dir.“
Die Augen des Händlers begannen zu leuchten und er rief freudig:
„Endlich, ich habe endlich gefunden, was ich immer gesucht habe!“ Er fragte den Kaufmann nach dem Preis und war überrascht, als jener antwortete:
„Den Preis, den macht das Auge selbst.“
„Wie soll das gehen, das verstehe ich nicht. Kannst du mir das näher erklären?“, fragte er den Kaufmann.
„Ganz einfach“, entgegnete dieser, „ich lege das Auge auf die eine Seite der Waage und du das Geld auf die andere Seite. Wenn die zwei Teller im Gleichgewicht sind, gehört das Auge dir.“
Und so wurde es gemacht. Der Händler legte erst eine Silbermünze auf die Waage und dann noch eine, aber es tat sich nichts. Er leerte seine ganze Börse, aber es tat sich einfach nichts. Er eilte nach draußen, holte seine Satteltasche und da er keine Silbermünzen mehr hatte, legte er Goldmünzen hinein, aber es tat sich immer noch nichts. In diesem Moment trat ein Derwisch in den Laden, der von draußen alles mitbekommen hatte und sagte zum Händler:
„Hör auf, du wirst ja noch arm. Nimm alles Geld wieder zurück, ich werde dir zeigen, wie du es machen sollst.“
Als der Kaufmann seine Silber- und Goldmünzen wieder zu sich genommen hatte, holte der Derwisch aus seiner Tasche ein Tuch und bedeckte damit das Auge.
„Nun leg eine Münze hinein und noch eine“, sagte er. Plötzlich stand die Waage im Gleichgewicht. Erstaunt sprach der Händler zum Derwisch:
„Du bist ja ein Zauberer.“
„Nein, nein. Du weißt nur nicht, dass das Auge unersättlich ist, wie ein Fass ohne Boden. Nichts kann seine Gier stoppen, außer man nimmt ihm die Sicht.“
Kleine Märchen große Weißheiten