Märchenreihe Maghreb #14 – Engelstränen
Jeden Freitag stellt uns der Geschichtenerzähler und Autor Naceur-Charles Aceval ein Märchen aus seinen Büchern vor und entführt uns mit seinen Geschichten und Weisheiten in die Märchenwelt des Maghreb.
„Menschen kommen, Menschen gehen! Allein das Wort reist und bleibt und erreicht immer sein Ziel.“ so fangen immer die Erzählungen von Naceur-Charles Aceval an, welche der Erzähler direkt aus dem Mund seiner Mutter gehört und die ihn von Kindheit an tief geprägt haben. Es sind die Geschichten und Märchen aus der Welt der Nomaden und dem Nomadenzelt seiner Kindheitstage und Vorfahren in den Hochebenen Algeriens, zwischen Meer und Wüste, zwischen Nomaden und Seßhaften, die direkt aus der mündlichen Erzähltradition des Maghreb entstammen.
Engelstränen
Aus dem Buch „Der Erzähler von Algier“, Oktober 2017, Papermoon-Verlag. Kostet 15,00€, Bestellung direkt bei Naceur-Charles Aceval.
Eines Tages, in uralter Zeit, einer Zeit, als der Himmel tief über der Erde lag, und die Engel mit den Menschen befreundet waren, kam eine große Dürre über das Land. Die Erde verhärtete sich, so dass kein Pflug und kein Spaten eindringen konnten. Es wuchs nichts mehr. Die Tiere magerten ab und starben. Nachdem die Menschen ihre Vorräte verbraucht hatten, mussten auch sie verhungern.
Die Engel im Himmel hörten die Klagelieder der Menschen und sahen, wie die Frauen die Erde mit bloßen Händen umgruben, um für ihre Kinder einige Körner zu finden. Das machte die Engel traurig, denn sie hatten großes Mitgefühl. Sie begannen zu weinen, und als ihre Tränen auf die Erde fielen, verwandelten sich diese in kleine, gelbe, essbare Körner. So kam das Couscous auf die Welt.
Dies alles geschah im Norden Afrikas, dem Maghreb, der Heimat verschiedener Berberstämme. Im Land meiner Ahnen. In meinem Heimatland…
Couscous ist das Nationalgericht in Nordafrika. Es wird zu vielen Anlässen zubereitet, bei Hochzeiten, Beschneidungsfesten, Trauerfeiern, aber vor allem als Opfergabe für einen Wunsch oder einen Traum, der in Erfüllung gehen soll. Wenn meine Mutter Couscous für uns kochte, fügte sie immer einen Teller für einen Bettler hinzu, für jemanden, der noch ärmer war als wir. Ich weiß noch, dass ich als Kind an einem kalten Winternachmittag einen Teller Couscous mit wenig Gemüse, nur einem Kohlblatt, einige Kichererbsen und Soße, zu einem bedürftigen alten Mann trug, der in einer kleinen Holzhütte lebte. Als Kind konnte ich nicht verstehen, dass meine Mutter Essen verschenkte, obwohl wir selbst wenig hatten und hungrig waren. Erst viele Jahre später verstand ich meine Mutter und wieviel ich durch sie über die Gastfreundschaft der Nomaden gelernt hatte.
„Wie kann jemand glücklich sein, wenn er nicht gibt?“ Nomadenspruch