Märchenreihe Maghreb #13 – Kleiner Streit, großes Unglück
Jeden Freitag stellt uns der Geschichtenerzähler und Autor Naceur-Charles Aceval ein Märchen aus seinen Büchern vor und entführt uns mit seinen Geschichten und Weisheiten in die Märchenwelt des Maghreb.
„Menschen kommen, Menschen gehen! Allein das Wort reist und bleibt und erreicht immer sein Ziel.“ so fangen immer die Erzählungen von Naceur-Charles Aceval an, welche der Erzähler direkt aus dem Mund seiner Mutter gehört und die ihn von Kindheit an tief geprägt haben. Es sind die Geschichten und Märchen aus der Welt der Nomaden und dem Nomadenzelt seiner Kindheitstage und Vorfahren in den Hochebenen Algeriens, zwischen Meer und Wüste, zwischen Nomaden und Seßhaften, die direkt aus der mündlichen Erzähltradition des Maghreb entstammen.
Kleiner Streit, großes Unglück
Aus dem Buch „Der Erzähler von Algier“, Oktober 2017, Papermoon-Verlag. Kostet 15,00€, Bestellung direkt bei Naceur-Charles Aceval.
„Auch wenn es sich unglaublich anhört, dieses Märchen hat eine Botschaft und in ihm steckt eine tiefe Wahrheit.
Wenn es dir danach ist, lache darüber mit allen Zähnen, weine darüber mit allen Tränen, oder denke darüber nach und ziehe eine Lehre daraus.“
Im fernen Afrika, in einer Zeit, als Mensch und Tier noch in Frieden lebten, in einer Zeit, als die Tiere noch sprechen konnten, ereignete sich Folgendes:
In einem kleinen friedlichen Dorf herrschte ein Stammesfürst, der allein mit seiner alten, kranken Mutter lebte. Er besaß einige Haustiere: einen Hund, einen Hahn, einen Ziegenbock, ein Pferd und einen Ochsen, die alle in Freiheit leben durften, ohne in Ställen angebunden zu sein.
Eines Tages starb ein alter Scheich, der für seine Weisheit bekannt war. Er hatte in einem Dorf gelebt, das einen zwei Tage langen Fußmarsch entfernt lag. Wie es Sitte war, mussten alle Oberhäupter der Umgebung an der Trauerfeier teilnehmen. So bereitete sich auch unser Stammesfürst auf die Reise vor. Zuvor aber traf er für seine bettlägerige Mutter Vorsorge. Neben ihr Bett stellte er getrocknete Datteln, Feigen und Säfte und vergaß nicht, die Öllampe zu füllen.
Er sprach zu ihr:
„Mutter, ich werde für fünf bis höchstens sechs Tage abwesend sein. Pass auf dich auf“. Die alte Mutter legte ihre Hand auf den Kopf ihres Sohnes und gab ihm Segenswünsche mit auf den Weg.
Dann sprach er zu seinem Hund:
„Treuer Freund, halte hier vor der Tür Wache und weiche nicht von der Stelle. Wache darüber, was drinnen und draußen geschieht.“
Er fügte hinzu, dass der Hund in einer gefährlichen Lage die anderen Tiere holen solle, um ihm zu helfen. Auch der Hund bekam Nahrung und Wasser. Den anderen Tieren befahl der Fürst, sich nicht von der Hütte zu entfernen. Dann trat er die Reise an.
Nach ungefähr zwei Tagen hörte der Hund, wie etwas in dem Raum raschelte, in dem die Mutter lag. Er sah wie zwei Eidechsen an der Decke sich um eine tote Fliege stritten. Sein Blick fiel auf den Hahn, der gerade einige Körner aufpickte. Schnell forderte er diesen auf, die beiden Eidechsen zu trennen.
„Muezzin, trenne bitte die zwei Eidechsen die sich um eine tote Fliege streiten.“
Der Hahn erwiderte:
„Ich, der einzige prächtige Hahn im Dorf, soll mich in den unbedeutenden Streit um eine tote Fliege einmischen? Das will ich überhört haben.“
Empört pickte er weiter einige Körner auf.
„Kein Streit ist unbedeutend, auch der kleinste Streit kann großes Unheil entfachen“, erwiderte der Hund.
Er rief den Ziegenbock:
„Du, weiser Hakim, trenne bitte die beiden Eidechsen, die sich um eine tote Fliege streiten.“
Der Ziegenbock meckerte:
„Hast du keinen Respekt vor meinem weißen Bart? Ich möchte gerne meine Weisheit für wichtigere Dinge einsetzen, als für einen unbedeutenden Streit um eine tote Fliege.“
„Kein Streit ist unbedeutend, auch der kleinste Streit kann großes Unheil entfachen“ entgegnete der Hund.
Als nächstes rief er das Pferd:
„Sultan, du mächtiges Tier, mache bitte dem Streit zwischen den beiden Eidechsen ein Ende.“
Da wieherte das Pferd, in seinem Stolz verletzt:
„Ich, Sultan, ein Vollblut-Araber, soll mich in einen Streit um eine tote Fliege einmischen?“
Und schon war das Pferd fort.
„Kein Streit ist unbedeutend, auch der kleinste Streit kann großes Unheil entfachen.“
Zuletzt fragte der Hund den Ochsen, der im Schatten eines Feigenbaumes lag und mit geschlossenen Augen wiederkäute: „Sadhu, gelehrter Ochse, komm bitte und mache dem Streit ein Ende.“
Der Ochse öffnete langsam die Augen und antwortete mit tiefer, ruhiger Stimme:
„Du störst mich in meiner Meditation. Ich befinde mich in einer kontemplativen Phase. Glaubst du, dass ich mich erhebe und mich in den Streit um eine tote Fliege einmische?“ Und damit schloss er seine Augen wieder und kehrte in seine Innenwelt zurück.
„Kein Streit ist unbedeutend, auch der kleinste Streit kann großes Unheil entfachen.“
Der Streit der beiden Eidechsen aber war inzwischen so heftig geworden, dass beide von der Decke auf die Öllampe fielen. Die Lampe kippte um, und das Bett fing Feuer. Der Hund rief um Hilfe, und die Dorfbewohner kamen in Scharen herbei, jeder mit einem Eimer Wasser. Mit großer Mühe wurde das Feuer gelöscht. Die Mutter des Fürsten hatte sich schwere Verbrennungen zugezogen. Man beauftragte einen jungen Mann, das Pferd Sultan zu satteln und den Stammesfürsten zu benachrichtigen, dass er schnellstens nach Hause kommen solle. Der junge Mann ritt einen Tag lang und ohne Pause. Als der Stammesfürst die Nachricht vernommen hatte, nahm er dasselbe Pferd und ritt schnellstens durch die Nacht zurück zu seiner Mutter. Doch die Anstrengung war für das Pferd zu viel gewesen. Kaum angekommen erlitt es einen Herzschlag. Bevor es für immer die Augen schloss, rief es betrübt dem Hund vor der Hütte zu:
„Hätte ich nur auf dich gehört! Jetzt wird mein Vollblut fließen, denn kein Streit ist unbedeutend, so klein er auch sein mag.“
Ein Medizinmann wurde herbeigerufen. Nachdem er seine Zauberknochen zu Boden geworfen hatte, um daraus zu lesen, sprach er:
„Großer Fürst, um die Schmerzen deiner Mutter zu lindern und die Heilung zu fördern, brauche ich das Blut und die Federn eines Hahnes.“
Einige Männer und Kinder machten sich auf die Jagd nach dem prächtigen Hahn. Ein junger Mann schnappte das Tier am Hals, und voller Bedauern rief der Hahn dem Hund zu:
„Hätte ich doch auf dich gehört! Kein Streit ist zu unbedeutend, so klein er auch sein mag.“
Kurze Zeit später tupfte man das Blut des Hahnes auf die Verletzungen der alten Frau und streute die Federn darüber. Aber alles half nichts. Nach zwei Stunden starb die alte Frau. Und wie es in dem Stamm Sitte war, sollte man das Blut eines Ziegenbocks auf ihr Grab fließen lassen. Der Ziegenbock wurde gefasst und an den Hörnern herbei gezogen. Im Vorbeirutschen rief auch er dem Hund zu:
„Hätte ich nur auf dich gehört! Jetzt bin ich mit meiner Weisheit am Ende. Du hattest Recht! Kein Streit ist zu unbedeutend, so klein er auch sein mag.“
Das Blut floss, die alte Frau wurde begraben, und das Fleisch des Ziegenbockes an die Dorfbewohner verteilt.
Nach vierzig Tagen gab es eine große Trauerfeier, zu der nicht nur die Dorfbewohner eingeladen wurden, sondern auch die Oberhäupter anderer Stämme. Da man viel Fleisch brauchte, sollte ein Ochse geopfert werden. Als man diesen an der Hütte vorbeizog, rief auch er dem Hund zu:
„Hätte ich bloß auf dich gehört! Kein Streit ist unbedeutend, so klein er auch sein mag.“
„Karma, Karma“ waren seine letzten Worte.
Allein der Hund überlebte. Und da zu dieser Zeit die Tiere noch sprechen konnten, erzählte der Hund die Geschichte weiter, von Tier zu Mensch. Als aber eines Tages die Tiere verstummten, ging die Geschichte von Mensch zu Mensch, von Mund zu Ohr weiter, durch Jahrzehnte, Jahrhunderte, bis zu mir. Und ich gebe sie euch als Geschenk. Gebt sie weiter, damit sie weiterlebt, von Mensch zu Mensch, von Mund zu Ohr.