Märchenreihe Maghreb #11 – Die drei Wahrheiten
Jeden Freitag stellt uns der Geschichtenerzähler und Autor Naceur-Charles Aceval ein Märchen aus seinen Büchern vor und entführt uns mit seinen Geschichten und Weisheiten in die Märchenwelt des Maghreb.
„Menschen kommen, Menschen gehen! Allein das Wort reist und bleibt und erreicht immer sein Ziel.“ so fangen immer die Erzählungen von Naceur-Charles Aceval an, welche der Erzähler direkt aus dem Mund seiner Mutter gehört und die ihn von Kindheit an tief geprägt haben. Es sind die Geschichten und Märchen aus der Welt der Nomaden und dem Nomadenzelt seiner Kindheitstage und Vorfahren in den Hochebenen Algeriens, zwischen Meer und Wüste, zwischen Nomaden und Seßhaften, die direkt aus der mündlichen Erzähltradition des Maghreb entstammen.
Die drei Wahrheiten
Aus dem Buch „Kleine Märchen, große Weisheiten“, Mai 2017, Papermoon-Verlag. Bestellung direkt bei Naceur-Charles Aceval.
Eine junge Gazelle hatte sich verlaufen und ihre Herde verloren. Sie lief verwirrt und ängstlich in alle Richtungen. Plötzlich stand sie vor einem riesigen Löwen, der gerade einen Ochsen verspeist hatte.
„Hallo, Fräulein! Geht man heute ganz alleine spazieren?“, fragte der König der Tiere. „Du weißt ja“, sagte der Löwe weiter, „das Naturgesetz, nach dem ich programmiert bin, schreibt vor, dass ich dich auf der Stelle auffressen muss.“
„Das weiß ich, Majestät, und ich weiß auch, dass du als König die Macht hast mich gehen zu lassen“, sagte die ängstliche Gazelle.
„Mmh, mmh, ich weiß, ich weiß, aber nicht so schnell, so einfach mache ich es dir nicht. Wenn du mir drei Wahrheiten sagst, dann lasse ich dich gehen“, sagte der König der Tiere. Die junge Gazelle überlegte einen kurzen Moment, dann sagte sie:
„Wenn du mich gehen lässt und ich meinem Stamm erzähle, dass ich dem König der Tiere begegnet bin und er mir die Freiheit geschenkt hat, glaubt mir das keiner. Das ist die erste Wahrheit.“
„Das ist wahr, Fräulein, du hast recht, aber jetzt sage mir die zweite Wahrheit.“
„Die zweite Wahrheit ist, wenn du mich frei lässt und deinesgleichen erzählst, dass du eine wunderschöne, junge Gazelle getroffen hast und das du sie gehen lassen hast, das glaubt dir auch keiner.“
„Das ist auch wahr“, sagte der Löwe erstaunt.
„Und jetzt will ich die dritte Wahrheit wissen“. Dabei leckte er sich die Schnauze.
„Nichts einfacher als das, Majestät – sei mal ehrlich“, sagte zitternd, aber zuversichtlich die junge Gazelle. „Wenn du nicht gerade einen Ochsen gefressen hättest, hättest du kein Interesse an einer philosophischen Diskussion über Wahrheiten gehabt – und mich würde es längst nicht mehr geben.“
„Das ist auch wahr, Fräulein. Und jetzt verschwinde, bevor ich meine Meinung ändere!“ Und die kleine Gazelle schoss wie ein Pfeil mit einem fröhlichen und siegreichen „Bäh, bäh“ davon.