Märchenreihe Maghreb #10 – Die Frau, die aus den Sternen kam
Jeden Freitag stellt uns der Geschichtenerzähler und Autor Naceur-Charles Aceval ein Märchen aus seinen Büchern vor und entführt uns mit seinen Geschichten und Weisheiten in die Märchenwelt des Maghreb.
„Menschen kommen, Menschen gehen! Allein das Wort reist und bleibt und erreicht immer sein Ziel.“ so fangen immer die Erzählungen von Naceur-Charles Aceval an, welche der Erzähler direkt aus dem Mund seiner Mutter gehört und die ihn von Kindheit an tief geprägt haben. Es sind die Geschichten und Märchen aus der Welt der Nomaden und dem Nomadenzelt seiner Kindheitstage und Vorfahren in den Hochebenen Algeriens, zwischen Meer und Wüste, zwischen Nomaden und Seßhaften, die direkt aus der mündlichen Erzähltradition des Maghreb entstammen.
Die Frau, die aus den Sternen kam
Aus dem Buch „Der Erzähler von Algier“, Oktober 2017, Papermoon-Verlag. Kostet 15,00€, Bestellung direkt bei Naceur-Charles Aceval.
Es geschah in einer Zeit, als der Himmel tief über der Erde lag, in einer Zeit, in der unsichtbare Wesen mit den Menschen befreundet waren.
In der algerischen Wüste, am Fuße des Hoggar Gebirges, zwischen zwei riesigen dunklen Felsen, befand sich – und befindet sich vielleicht heute noch – eine kleine, aber wunderschöne Oase. Ihr Wasser war kristallklar, umgeben von saftigem Gras, im Schatten schlanker grüner Palmen, die das ganze Jahr über honigsüße Datteln trugen. In diesem kleinen Stück Paradies lebte ein Nomade allein in einem Zelt. Seine Eltern waren längst gestorben. Er hatte keine Frau und keine Kinder, nicht einmal einen Nachbarn. Aber er besaß eine wunderschöne Kamelherde, stolze Tiere, die ihm köstliche Milch schenkten. „Datteln und Milch, was braucht der Mensch mehr?“ sagt ein Nomadensprichwort.
Eines Tages geschah etwas Seltsames: Die Kamelstuten gaben keine Milch mehr. Besorgt blieb der Nomade den ganzen Tag von früh bis spät bei ihnen und sah, dass sie wie immer tranken, fraßen und zufrieden waren. Am nächsten Morgen aber waren die Euter der Stuten schlaff und leer. Der Nomade beschloss, die Nacht bei seiner Herde zu verbringen. Er zog seinen Burnus, den weiten Umhang der Nomaden, über die Schultern, und versteckte sich zwischen seinen Kamelen.
Um Mitternacht, als der Mond die Bergspitzen erhellte, kam vom Himmel ein Lichtstrahl bis in das Dunkel der Oase. Es waren Tausende und Abertausende von kleinen Sternen. Diese bildeten sieben Schaukeln, und auf jeder saß eine wunderschöne Frau. Der Nomade sah, wie die Frauen fröhlich singend heruntersprangen, und erstaunt beobachtete er, wie sie zu seinen Kamelstuten gingen, um sie zu melken.
„Ah“, sagte er sich, „sie sind es also, die mir meine Milch stehlen.“ Er wagte sich aus seinem Versteck hervor und versuchte, die Sternenfrauen zu fangen. Sie aber flohen, und im Nu schwebten sie hoch am Himmel. Durch die Eile des Aufbruchs verschütteten sie jedoch die kostbare Milch. In dieser Nacht, sagt man, sei die Milchstraße entstanden.
Es gelang dem Nomaden dennoch, eine dieser wunderschönen Frauen festzuhalten. Der Nomade führte sie in sein Zelt, band ihre Hand mit einem Seil an den Hauptmast, setzte sich ihr gegenüber auf den Teppich und schaute die Schöne mit großen Augen an. Plötzlich spürte er einen heftigen Stich im Herzen. Das hatte er noch niemals vorher erlebt. Es wurde ihm schwindelig und er verstand plötzlich, wie einsam er all diese Jahre gewesen war. Mit zitternder, trauriger Stimme begann er:
„Bitte, schönes Mädchen, ich bin so einsam. Bitte bleibe bei mir. Mit dir werde ich der glücklichste Mensch auf Erden sein. Wenn du gehen willst, lasse ich dich gehen, werde es aber nicht überleben.“
Die Sternenfrau schaute den Nomaden einen Augenblick lang an und erwiderte lächelnd:
„Ja, ich bleibe bei dir.“
Welch eine Freude für den Nomaden!
Kurze Zeit später wurde Hochzeit gefeiert. Als Zeuge diente, außer dem lieben Gott, die wunderschöne Kamelherde, die wiederkauend und mit großen Augen das frischvermählte Paar anschaute. Die Sternenfrau stellte jedoch eine Bedingung: In der Nacht, als der Nomade sie gefangen hatte, trug sie einen kleinen Korb auf dem Rücken. Sie bat ihn, niemals in diesen Korb zu schauen, sonst müsse sie ihn für immer verlassen. Der Nomade gab sein Versprechen, und so lebten sie viele Jahre lang zusammen, glücklich und zufrieden. Er verbrachte die Tage bei seiner Kamelherde. Die Sternenfrau hatte einen kleinen Garten in der Oase angelegt, in dem sie Gemüse und Kräuter anpflanzte. Die Zeit verging. Ja, die Zeit, dieser große Feind, der manche Versprechen vergessen lässt.
Als der Nomade eines Nachmittags allein im Zelt saß, während seine Frau sich im Garten aufhielt, sah er ihren geheimnisvollen Korb auf der Truhe im Halbdunkel stehen, und es überfiel ihn eine große Neugier. Mit leisen Schritten näherte er sich, schob vorsichtig den Deckel beiseite, schaute in den Korb und begann zu lachen. Schnell legte er den Deckel wieder zurück und setzte sich an seinen gewohnten Platz.
Als die Frau des Nomaden zurückkam, blieb sie an der Schwelle stehen. Zuerst schaute ihren Korb und danach ihren Mann an. Tränen liefen über ihre Wangen, als sie sagte:
„Warum hast du in meinen Korb geschaut? Warum hast du dein Versprechen nicht gehalten? Nun muss ich dich für immer verlassen.“
Der Nomade entgegnete:
„Was soll all diese Heimlichtuerei? Ja, ich habe in deinen Korb geschaut. Er ist ja völlig leer!“
„Oh, du Törichter, nun muss ich dich verlassen. Nicht nur, weil du in meinen Korb geschaut hast, sondern vor allem, weil du nichts darin gesehen hast.“
Sie wandte sich von ihm ab und lief den Berg hinauf. Eine Sternenschaukel kam vom Himmel herab und trug sie in den aufgehenden Mond. Seit dieser Nacht hat man die Sternenfrau nie wieder auf Erden gesehen.
Die Geschichte sagt nicht, was aus dem Nomaden geworden ist. Sie sagt nicht, ob er immer wieder in den Korb geschaut hat, um etwas zu sehen. Sie sagt auch nicht, ob er die Trennung von der Sternenfrau überlebt hat oder nicht. Aber die Geschichte will uns etwas vermitteln. Dies sollte jedoch jeder für sich herausfinden.