Märchenreihe Maghreb #1 – Der Erzähler von Algier
Jeden Freitag stellt uns der Geschichtenerzähler und Autor Naceur-Charles Aceval ein Märchen aus seinen Büchern vor und entführt uns mit seinen Geschichten und Weisheiten in die Märchenwelt des Maghreb.
„Menschen kommen, Menschen gehen! Allein das Wort reist und bleibt und erreicht immer sein Ziel.“ so fangen immer die Erzählungen von Naceur-Charles Aceval an, welche der Erzähler direkt aus dem Mund seiner Mutter gehört und die ihn von Kindheit an tief geprägt haben. Es sind die Geschichten und Märchen aus der Welt der Nomaden und dem Nomadenzelt seiner Kindheitstage und Vorfahren in den Hochebenen Algeriens, zwischen Meer und Wüste, zwischen Nomaden und Seßhaften, die direkt aus der mündlichen Erzähltradition des Maghreb entstammen.
Wer hat die allererste Geschichte erzählt? Niemand weiß es. Wer hat als erster die Geschichten, Märchen und Legenden in der Welt verbreitet? Niemand weiß es. Wissenschaftler wissen es nicht und Ethnologen wissen es auch nicht. Aber man sagt, die Geschichtenerzähler haben für alles eine Antwort, auch wenn viele Menschen behaupten, Geschichtenerzähler seien Lügner. Vielleicht haben sie recht, aber eines ist sicher: Die Geschichten, die Märchen sagen immer die Wahrheit und tragen eine Botschaft in sich.
Die erste Geschichte der ersten Zeit hat mit Sicherheit eine Frau erzählt. Es war die erste Frau der ersten Zeit. Die erste Frau hielt ein Kind im Arm und sang ihm ein Lied. Ein Lied ist auch eine Form des Erzählens, ja sogar die schönste Form des Erzählens, der Ausdruck einer großen Liebe. Meine Mutter hat uns Kindern während des Algerienkrieges Abend für Abend Märchen erzählt, nicht nur zur Unterhaltung, sondern vor allem gegen die Angst und gegen den Hunger.
Es gibt eine Geschichte, die erzählt, wie sich die Märchen in der Welt verbreitet haben. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass auch ihr davon erfahrt. Hört also die Geschichte des Erzählers von Algier.
Der Erzähler von Algier
Aus dem Buch „Der Erzähler von Algier“, Oktober 2017, Papermoon-Verlag. Kostet 15,00€, Bestellung direkt bei Naceur-Charles Aceval.
Es ist lange her, sehr lange her, da lebte ein Schneider in der Stadt Algier, der die Menschen sehr liebte. Er kannte viele Geschichten, Märchen und Legenden, die er ebenfalls sehr liebte. Sie waren sein allergrößter Schatz. Eines Tages wurde ihm bewusst, dass die Welt immer schlechter wurde, wie sehr die Menschen in Hast und Eile lebten, dass sie keine Zeit mehr füreinander hatten, und noch schlimmer, er sah, dass die meisten Menschen die Natur zerstörten, dass sie sich sogar sich gegenseitig bekriegten. Das machte ihn sehr traurig.
„Was kann ich tun, um sie glücklich zu machen?“ fragte er sich. „ Was kann ich ihnen geben, damit sie glücklicher werden und die Welt dadurch auch besser wird?“ Er kam auf die Idee, den Menschen das zu schenken, was für ihn am kostbarsten war: seine Geschichten, Märchen und Legenden.
„ Ja, ich werde den Menschen Geschichten erzählen. Das macht sie glücklich und zufrieden, und dadurch wird die Welt besser. So kann ich die Welt verändern“, sagte er sich. Er legte seine Schere beiseite, schloss seinen Laden, nahm seinen Hocker und ging auf den Platz von Algier. Er stellte sich auf den Hocker und begann zu erzählen. Die Menschen blieben stehen, Männer, Frauen und viele Kinder, denn gerade die Kinder sind immer sehr neugierig. Ja, sogar ein paar Hunde blieben stehen, denn so etwas hatte es vorher noch nie gegeben. Der Schneider erzählte und erzählte. Die Menschen hörten eine Zeitlang zu, mussten aber bald wieder ihren Geschäften nachgehen oder nach Hause eilen.
Am nächsten Tag kam der Schneider wieder und begann zu erzählen. Die Menschen blieben erneut stehen, jedoch waren es weniger als am Vortag. Der Schneider dachte:
„Gott schuf die Welt auch nicht an einem Tag. Ich gebe nicht auf.“ Er kam noch ein drittes Mal und erzählte weiter. Auch da blieben Menschen stehen, aber noch weniger als am Vortag. Von nun an kam der Schneider und erzählte jeden Tag. Er erzählte zehn Tage, hundert Tage, tausend Tage lang, aber es blieb niemand mehr stehen, um seine Geschichten zu hören. Täglich kam er wieder, und dies bei jedem Wetter. Er erzählte dem Wind, den Wolken und den Jahreszeiten. Wenn man von ihm sprach, sagte man nicht „der Schneider“ oder „der Erzähler“, sondern „der Mann, der mit sich selbst redet“. Ja, sogar wenn jemand nach dem Weg fragte, sagte man: „Du musst nach rechts oder links gehen, dort wo der Mann auf einem Hocker steht und mit sich selbst redet.“ Er wurde zum Wahrzeichen der Stadt.
Fünf Jahre vergingen, ja, zehn Jahre vergingen, und er stand immer noch da, und erzählte und erzählte.
An einem kühlen Herbstnachmittag, erzählte der Schneider wieder einmal Geschichten und stand dabei auf seinem Hocker. Der Wind wirbelte Blätter und Staub um ihn herum. Sein Gesicht war nach oben gerichtet, die Augen geschlossen, als redete er mit Gott. Da kam ein kleiner Junge, zog ihn am Ärmel und fragte:
„He du, warum erzählst du? Es steht doch niemand da und hört zu!“ Der Schneider schaute auf ihn hinunter und sagte:
„ Ja, ich weiß, mein Junge, ich weiß.“
„Ja, aber wenn du das weißt, warum erzählst du dann weiter?“ Der Schneider antwortete:
„Es ist lange her, längst bevor du geboren warst, da habe ich angefangen Geschichten zu erzählen, um die Menschen glücklicher zu machen, um die Welt zu verbessern und sie zum Guten zu verändern.“
„Und hat sich die Welt verändert?“ fragte der Junge.
„Nein, leider hat sich die Welt weder verbessert, noch zum Guten verändert“, antwortete der Schneider traurig.
„Ja, aber wenn die Welt sich nicht verändert hat, warum erzählst du weiter?“ beharrte der Junge. Der Schneider, der Erzähler, der Mann, der alleine redete, antwortete:
„Ich erzähle weiter, und werde solange ich lebe, Geschichten erzählen. Allerdings nicht mehr, um die Welt zum Guten zu verändern, sondern damit die Welt mich nicht verändert.“
Der Erzähler schloss die Augen, richtete sein Gesicht zum Himmel und erzählte weiter. Der Knabe blieb stehen und hörte den Geschichten des Schneiders zu. Er kam tagelang, monatelang, jahrelang und sog die Geschichten des Schneiders in sich auf.
Eines Tages, nach vielen Jahren, als der Knabe, der nun ein junger Mann geworden war, auf den Platz von Algier kam, war der erzählende Schneider nicht mehr da. Geblieben war nur sein Hocker, auf welchem der Umhang lag, den er immer beim Erzählen getragen hatte. Der Junge verstand, dass der Schneider nie wieder kommen würde. Er nahm den Umhang in die Hand, schaute den Hocker an und sagte sich:
„Nein, auf diesen Hocker werde ich nicht steigen.“ Stattdessen zog er den Umhang über seine Schultern und ging hinaus in die Welt, um überall die Geschichten, Märchen und Legenden des Schneiders zu erzählen. Geschichten die seit Jahrzehnten, Jahrhunderten, ja sogar Jahrtausenden um die Welt reisen und ihre Reise nie beenden werden.