Märchen aus dem Maghreb
Die unbefleckte Erkenntnis
In ihrem Garten gießt Lalla Aicha den Basilikum. Sie ist die Tochter eines reichen, alternden Geschäftsmannes. Das bildschöne Kind ist ohne Mutter aufgewachsen und hat sich bei ihrer Amme Dada Mbarka jede Kaprice erlauben dürfen. Da das Grundstück des Vaters an den Palast des Sultans grenzt, kann dessen Sohn das holde Mägdelein bei den Gartenarbeiten beobachten. Den ersten Blickkontakt der beiden prägt ein deutlicher Höhenunterschied: Die Bürgertochter muss zum verzückten und gleichwohl arroganten Aristokraten aufblicken und kontert seine Bemerkungen mit selbstbewussten und geistreichen Entgegnungen. Farida Benlyazids „Die List der Frauen“ beginnt, trotz der kruden Eigenheim-mit-Gartenzaun-Idylle der ersten Bilder, nicht wirklich mit einem Laubenpiepergespräch, einem amourösen Geplänkel: Denn die Nähe ist trügerisch und der Sultanssohn wird versuchen, soziale Barrieren und außerdem den männlichen Überlegenheitsanspruch zu behaupten, dem ersten Blick zum Trotz, in dem für Lalla Zukunft und Glück aufleuchtet. Lalla ist verliebt und weiß, dass diese Gefühle sie bedrohen, wenn sie es nicht versteht, die Gefühle ihres Gegenüber zu manipulieren, um in die reine Welt der Herzen vorzustoßen, dahin, wo ohnehin jede Frau den Geschlechterkampf gewinnt. Lalla ist eine Märchenfigur: Eine Jungfrau mit dem Privileg der unbefleckten Erkenntnis. Lalla, die Ehrgeizige, will den Sultanssohn, aber sicher nicht so, wie er zu Beginn des Films ist. Dazu ist außer dem Charme Verschlagenheit vonnöten, List und Schläue. Farida Benlyazid hat „Die List der Frauen“, ein altes andalusisches Volksmärchen, in früher Kindheit kennen gelernt. Es ist ein Stück mündlicher Überlieferung, das kleine Mädchen früh für die Begegnung mit dem anderen Geschlecht ertüchtigt. Bereits in ihrem ersten, international beachteten Film („Une Porte sur le Ciel“) hat die in Tanger geborene und lebende marokkanische Filmemacherin ihren Hang zur poetischen Ausdeutung der kruden Wirklichkeitsprobleme ihres Landes unter Beweis gestellt. Ein gewalttätiges Kino als Antwort auf eine gewalttätige Gesellschaft lehnt sie ab. Gewalt gegen Frauen und Frauenemanzipation ist ein in diesen Jahren im Kino des Maghreb immer wieder thematisiertes Problem. Farida Benlyazid will die Frau Nordafrikas aus der oft schon bebilderten Opferrolle befreien. Dabei ist ihr Aufruf zu femininer Schläue nicht in Opposition zu Tradition und Religion zu verstehen. Den toleranten Islam und den unerschöpflichen Schatz von Märchen und Gedichten weiß sie auf ihrer Seite. Ein Märchen aus Tausend-und-einer-Nacht ist „Die List der Frauen“ gleichwohl nicht geworden. Zu plakativ ist die Spielweise, zu unmittelbar griffig die Bildsprache eine Mischung aus Commedia dell Arte und Vorabendserie. Die Figuren wirken in den alten Kostüme wie verkleidet, der Film entführt nicht ins alte Andalusien der Mauren, verzaubert nicht, sondern folgt stringent seiner kammerspielartigen Dramaturgie. Die List der Frauen (Keid Ensa) Marokko 1999, 90 Minuten, Drehbuch und Regie: Farida Benlyazid, Darsteller: Samira Akariou, Rachid El Ouali