Der Wundersame Granatapfelbaum – Märchen aus dem Maghreb
Es war vor lange Zeit, in der Stadt Córdoba, wo ein Kalif regierte. In dieser Zeit und in dieser Stadt lebten viele jüdische Familien. Manche waren beim Kalif im Hof eingestellt, als Übersetzer, Ärzte und Berater. Aber die meisten jüdischen Familien lebten am Rande der Stadt in armseligen Hütten und in großer Armut. Einer davon war Wasserträger. Tagein, tagaus schleppte er seine Last, aber sein Lohn reichte nur für ein Stück Brot. Gott hat ihn mit vielen Kindern gesegnet und die wenigen Bissen, die er an sie verteilte, konnten ihren Hunger nicht stillen. Er arbeitete noch mehr, aber der Hunger war und blieb ein ständiger Gast in seiner Hütte.
Eines Tages, kurz vor Weihnachten, war ein Fest in der Stadt und nach einem schweren Arbeitstag sagte der Mann : „Mensch, ich möchte mal unter die Leute“. In seiner Verzweiflung ging der Wasserträger auf den Markt. Er sah viele Farbe und es roch nach Zimt und Kardamom. Einen Moment blieb er stehen und mischte sich vor dem Stand des Bäckers unter die Leute. Er dachte an seine Kinder und als der Bäcker nicht hinsah, stahl er ein Brot und versteckte es unter seinem Umhang. Aber noch bevor er sich in Sicherheit bringen konnte, hatte der Bäcker den Diebstahl bemerkt und rief die Wache des Sultans herbei. Ehe er sich versah, war der Mann verurteilt und wurde zum Galgen geführt. „Hast du noch einen letzten Wunsch?“ fragten ihn die Soldaten. „Was könnte ich mir schon wünschen“, fragte er traurig. „Bald ist es um mich geschehen. Nur schade, dass ich mein Geheimnis mit ins Grab nehmen muss. Wenn der Sultan wüsste, was ich weiß, würde er mich sicher anhören.“ Die Soldaten blieben stehen und führten ihn zum Sultan. Vielleicht hatte er ja wirklich ein nützliches Geheimnis.
Als der Sultan erfuhr, dass der Mann, der auf dem Markt ein Brot gestohlen hatte, ein Geheimnis hatte, winkte er den Höflingen, sie allein zu lassen. „Nun“, sagte er, „wir sind allein. Sprich!“ „Mächtiger Sultan“, sagte der Mann, „Ich kenne das Geheimnis des Granatapfelbaums. Ich weiß, wie man seinen Samen pflanzt, damit er über Nacht ein Baum wird. Mein Vater hat mich diese Geheimnis gelehrt, und er hat es von seinen Vorvätern gelernt. Wenn du willst, kann ich dir meine Kunst vorführen.“ Der Sultan besaß zwar viele Schätze, aber ein Wunder hätte er auch gerne zur Verfügung gehabt. Er befahl, dass sich zu einer bestimmten Stunde der ganze Hof im Garten versammelte. Der Wasserträger hob einen Grube aus, nahm einen Samenkern in die Hand und sprach: „Großer Sultan! Über Nacht wird aus diesem Samen ein Granatapfelbaum wachsen. Jedoch nur ein Mensch, der noch nie etwas gestohlen hat, darf den Samen in die Erde legen. Da ich selbst ein Dieb bin, darf ich es nicht tun. Großer Sultan bestimme jemanden, der an meiner Stelle den Samen in die Erde legt, und schon morgen sollst du reife Granatäpfel pflücken.“ Da sagte der Sultan zu seinem ersten Ratgeber: „Pflanze du den Samen. Und morgen soll der ganze Hof in den Garten kommen, damit wir uns überzeugen, ob der Granatapfelbaum auch wirklich gewachsen ist. Bis dahin soll der Mann am Leben bleiben!“
Am nächsten Tag begab sich der Sultan mit seinem Hof in den Garten. Aber an dem Platz, wo sein Ratgeber den Samen in die Erde gelegt hatte, war kein Granatapfelbaum zu sehen. Da ließ der Sultan den Mann vorführen und herrschte ihn an:„Wenn du geglaubt hast, du könntest der Strafe entkommen, hast du dich geirrt! Du bist nicht nur ein Dieb, sondern auch ein Lügner.“ Der Mann blickte den Sultan fest an. „Für das Wunder übernehme ich die Gewähr. Ich bin sicher“, sagte er, „dass der Granatapfelbaum nur deshalb nicht gewachsen ist, weil dein erster Ratgeber die Bedingung nicht erfüllt hat. Sicher hat er auch einmal etwas gestohlen.“„Was sagst du dazu?“ fragte der Sultan seinen Ratgeber. Der errötete und stotterte: „Mein Gebieter, der Mann hat recht. Vor vielen Jahren habe ich den Ring genommen, der vom Tisch gefallen war. Habt Erbarmen mit mir! Ich werde zurück erstatten, was mir nicht gehört!“ Der Sultan runzelte die Stirn und befahl seinem Schatzmeister den Samen zu pflanzen. Nach dieser Erfahrung hatte aber der Schatzmeister keine Lust, sich zu blamieren und sagte leise: „Du weißt, großer Sultan, welche Schätze täglich durch meine Hände gehen. Alles wird sorgfältig in ein Buch eingetragen. Einmal aber konnte ich nicht widerstehen und habe eine seltene Perle an mich genommen. Ich schwöre, dass sich sie noch heute zurück bringen werde. Ich flehe dich an, mir meine Unehrlichkeit zu verzeihen.“ Der Sultan blickte zornig um sich, um einen andren Mann auszusuchen, als der Mann sprach: „Mächtiger Sultan, ich rate dir, von niemand mehr zu verlangen, den Samen in die Erde zu pflanzen. Der Mensch kann sich nur selbst vertrauen, daher ist es besser, wenn du es selbst tust.“ Da breitete sich eine seltsame Stille aus. Schließlich sagte der Sultan: „Ich gestehe, dass auch ich nicht ohne Schuld bin. Als Knabe habe ich meiner Mutter einen kostbare Kette gestohlen.“ Dann lächelte er und fuhr fort: „Ich sehe, dein größtes Geheimnis ist deine Weisheit. Deine Schuld sei dir verziehen.“ Und dann gab der Sultan dem Mann noch so viel Gold, dass er und seine Familie nie mehr Hunger leiden mussten. Quelle: Leo Pavlat, Jüdische Märchen. Werner Dausien Verlag, Hanau.