Tahar Djaout – Algerischer Journalist, Dichter und Autor
Der algerische Journalist, Dichter und Prosa-Autor Tahar Djaout (* 11. Januar 1954 in der Kabylei; † 2. Juni 1993 in Algier) gehörte zu den ersten Intellektuellen, die Opfer eines fundamentalistischen Attentats während des algerischen Bürgerkriegs in den frühen Neunziger Jahren wurden.
Kurz vor seiner Ermordung schrieb Tahar Djaout „Wenn du schweigst, stirbst du, wenn du sprichst, stirbst du auch; also sprich und stirb“. Aufgrund seiner Unterstützung des Säkularismus und seiner ablehnenden Haltung dem Fanatismus gegenüber verübte die Groupe Islamique Armé am 26. Mai 1993 ein Attentat auf Djaout, dem er, im Alter von 39 Jahren, eine Woche später erlag. Bereits 1970 machte er mit der Novelle Les insoumis auf sich aufmerksam. Ab 1975 erschienen dann regelmäßig Gedichte, Erzählungen und Romane von ihm; insgesamt umfasst sein literarisches Werk 12 Bände. Für seinen Roman Die Wächter wurde er 1991 mit dem Prix Méditerranée ausgezeichnet.
Journalistisch war Djaout ab Mitte der 1970er Jahre für die Tageszeitung El Moudjahid und von 1980 bis 1984 sowie wieder von 1987 bis 1992 für die Wochenzeitschrift Algérie-Actualité als Literaturkritiker bzw. Kulturredakteur tätig. Als Djilali Khellas 1990 das Literaturmagazin Erriwaya gründete war Djaout unter den ersten Autoren, die daran mitwirkten. 1993 gründete er die Zeitschrift Ruptures.
Als Assia Djebar im Jahr 2000 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde; widmete sie diese Ehrung den Autoren Tahar Djaout, Youssef Sebti und Abdelkader Alloula, die alle in den Jahren 1993 und 1994 ermordet wurden. Quelle: wikipedia.org
Ins Deutsche übersetzte Werke von Tahar Djaout:
Die Suche nach den Gebeinen, Roman (Les chercheurs d’os, 1984). Aufbau-Verlag (Edition Neue Texte), Berlin und Weimar 1988, Kinzelbach Verlag, Mainz 1995
- Der Enteignete (L’Exproprié, 1981/91). Manholt, Bremen 1995
- Die Wächter. Roman (Les vigiles, 1991). Folio-Verlag, Wien und Bozen 1998
Zwei Romane Djaouts: die Suche nach den Gebeinen und der Enteignete.
Die Suche nach den Gebeinen.
Aus dem Französischen von Horst Lothar Teweleit.
Verlag Donata Kinzelbach, Mainz 1995.
Der Enteignete.
Aus dem Französischen von Holger Fock.
Manholt Verlag, Bremen 1995.
Zwei Romane Djaouts erlauben, den Autor jenseits der medialen Schlagzeilen und der Nachrufe kennenzulernen: Die Suche nach den Gebeinen, eine Neuauflage der bereits 1988 in der DDR erschienenen Übersetzung von Horst Lothar Teweleit, und Der Enteignete in einer nicht immer gelungenen Übertragung von Holger Fock (um nur ein Beispiel zu nennen: Den Protagonisten, der sich selbst als „un écorché“ bezeichnet, mit „Muskelmann“ zu titulieren, macht höchstens dann Sinn, wenn man die Übersetzung mit dem Original daneben liest).
Djaout erprobt in den beiden Romanen zwar unterschiedliche Schreibweisen, Wichtiges aber ist ihnen gemeinsam. Allem voran als Ausgangspunkt eine zentrale Idee, ein fiktiver Handlungskern, die sich in der Durchführung als ausserordentlich fruchtbar erweisen. Die Suche nach den Gebeinen spielt unmittelbar nach dem Unabhängigkeitskrieg: Das algerische Volk feiert zwar seine Befreiung, doch bald darauf macht es sich auf, die Reste der vielen Toten zu suchen, um islamische Begräbnisse in der Heimat zu ermöglichen. Der Ich-Erzähler von Der Enteignete, die Übersetzung stützt sich auf die von Djaout stark überarbeitete Fassung aus dem Jahre 1991, befindet sich in einem „Gerichtszug“, halb Gefängnis, halb Verhörraum: Seit den Folterungen hat er das Gedächtnis verloren, nun versucht er seine Geschichte und insbesondere den Grund für seine Verhaftung zu rekonstruieren.
Djaout konkretisiert die Suche nach den Gebeinen in der Wanderung eines namenlosen vierzehnjährigen Ich-Erzählers vom kabylischen Heimatdorf bis an die Grenze zur Wüste, wo er auf Gebeine stösst, die dem im Krieg gefallenen Bruder gehören könnten. Idee und Plot ermöglichen zwei Dinge: die Darstellung der spezifischen Form algerischer Vergangenheitsbewältigung, d.h. insbesondere die Schaffung von Märtyrern und Kriegsmythen, zudem erlaubt die Reise durchs Land, den Zustand der algerischen Übergangsgesellschaft (auch im Kontrast zu dem in Erinnerungen evozierten traditionellen Dorf) zu zeigen.
Wenn ein an (partieller) Amnesie Leidender seine Geschichte zu erzählen beginnt, ist nicht damit zu rechnen, dass er die Gesetze der Chronologie, der Logik und der gesellschaftlichen Tabus einhält. Dieser Ausgangspunkt eröffnet der literarischen Gestaltung sowie dem Vordringen in tiefere Schichten des Bewusstseins vielfältige Möglichkeiten. Ein grosser Teil von Der Enteignete besteht denn auch in Erinnerungen an die Kindheit, die trotz negativer Erfahrungen hauptsächlich mit einem distanzierten, sich jeglicher staatlicher Macht (zuerst den Franzosen, dann der neuen algerischen Elite) unterwerfenden Vater weniger verschüttet sind als die Ereignisse um Verhaftung und Folterung. Die Rekonstruktion der eigenen Lebensgeschichte, die immer auch diejenige der sozialen und ethnischen Herkunft darstellt, bedeutet in einem Land wie Algerien (Nebeneinander mehrerer Kulturen, Kolonisierung, auch des Bewusstseins, Exil etc.) zwangsläufig die schwierige Suche nach der eigenen Identität bzw. der Elemente, die eine Identitätsbildung behindern (beispielsweise die französische Schule oder das FLN-Regime, das jedes Abweichen von der uniformen Staatsideologie ahndet).
Diese Erinnerungsarbeit lässt an die Psychoanalyse denken, auch die Erzählweise: Über weite Strecken liest sich Der Enteignete wie eine Traumerzählung, evoziert werden unzusammenhängende, unrealistische Bildsequenzen, die nicht selten von sexuellen Phantasien durchmischt sind. Allerdings entspringen sie nicht allein der Spontaneität des Unbewussten, sondern sind Produkt einer poetischen Sensibilität. Djaout arbeitet mit unzähligen erlesenen Metaphern und Vergleichen: Dem Ich-Erzähler kommt z.B. etwas so fremd vor „wie ein paar (une paire) Socken an einem dreibeinigen Esel“; während seines Exils nimmt er in der U-Bahn Platz, „meine dunkelbraune Hautfarbe und mein Schnurrbart belasten mich (m’encombrent) mehr als mein Einkaufskorb“. Oder: „Einst träumte ich von einem Planeten, wo ich mich als schmachtendes und lüsternes Insekt auf sündigen Blütenständen und in verbotenen Feldern wälzte.“
Während die Komposition von Der Enteignete von einem Durch- und Nebeneinander der Zeiten und Motive, von Wiederholungen und Abweichungen bestimmt wird und von einer Entwicklung nur in dem Masse die Rede sein kann, als der Ich-Erzähler mit der Zeit näher an den Grund seiner Verhaftung und Verurteilung („sämtliche Missetaten und Räubereien meines Ahnen“) herankommt, erweist sich die Erzählstruktur in Die Suche nach den Gebeinen transparenter: Auch wenn die Erinnerungen des Jungen nicht chronologisch geschildert werden, so schafft die Reise doch einen zeitlichen und geographischen Raster. Eine deutlichere Entwicklung zeigt auch der Ich-Erzähler: Mit zunehmender Entfernung vom heimatlichen Dorf, das er zuvor nie verlassen hat, verliert der Junge seine Naivität; seine Kritik am Dorf mit seinen „dummen Zwängen und der Heuchelei“, mit seiner „starrsinnigen, Jahrhunderte dauernden Stille“ wird zunehmend luzider, seine Klage über den Verlust der archaischen Schönheit und seiner Nähe zur Natur aber auch hörbarer. Im Jungen zeigt Djaout die individuelle, nicht kollektive Optik eines Menschen, der den Krieg nicht mehr aktiv mitgemacht hat.
Die beiden auf Deutsch vorliegenden Romane stellen wie auch L’Invention du désert (Les Vigiles ist hauptsächlich eine Kritik am FLN-Regime und seiner Bürokratie) einen poetischen Steinbruch für das Verständnis der algerischen Geschichte dar. Vor allem aber − und darauf legte Djaout in allen Interviews Wert − literarische Werke mit höchsten ästhetischen Ansprüchen. Quelle: wikipedia.org, nabou.ch
Die Suche nach den Gebeinen als Hörspiel
Bei der Hörspielproduktion (Deutschlandradio – Philip Glaser)
Mitten in die Siegesfeier platzt der Befehl zum Aufbruch. Wer einen Verwandten in der Widerstandsbewegung hatte, soll sich auf die Suche nach dessen sterblichen Überresten machen. Auch der 14-jährige Erzähler zieht mit einem Esel und einem Alten aus dem Dorf los.
Unterwegs kommt er zum ersten Mal in eine Stadt. Autos tosen, Erinnerungen an den Krieg werden wach: wie Radio, Filme und die Schule ins Dorf kamen und einfache Bauernjungen wie sein Bruder mutige Widerstandskämpfer wurden. Der Bruder träumte von einer besseren Zukunft mit Maschinen, die von selbst pflügen. Am Ende der Reise klappern seine Knochen im Sack.
Übersetzung aus dem Französischen: Horst L. Teweleit
Hörspielbearbeitung und Regie: Anette Berger
Darsteller: Friedhelm Ptok, Timon Sitte, Otto Mellies, Joachim Tomaschewsky, Bastian Trost u.a.
Produktion: DeutschlandRadio Berlin 2004
Länge: 54’02
Die Wächter
Die Wächter.
Aus dem Französischen von Jessica Beer. Folio-Verlag, Wien und Bozen 1998.
Djaouts Roman „Die Wächter“ (Les vigiles, 1991) wurde mit dem „Prix Méditerranée“ ausgezeichnet. Auf sehr satirische und zugleich poetische Art kritisiert Djaout die von Fundamentalismus und Bürokratie gefangene algerische Gesellschaft der 80er Jahre. Hier treffen sich die verschiedenen Sichtweisen, Erwartungen und politischen, religiösen und sozialen Umwälzungen zu einer grotesken wie ausweglosen Tragikomödie.
„Wir haben nicht alle Tage mit Erfindern zu tun. Deswegen müssen Sie Verständnis für unsere Reaktion haben. Es wird Ihnen bekannt sein, dass die Worte Erfindung und Schöpfung von unserer heiligen Religion manchmal verurteilt werden, weil sie als Häresie gesehen werden.“
„Eine sensible und meisterhaft erzählte Satire voll tiefer Menschlichkeit“ (Le Monde)
„Besser als jeder Reportage gelingt es Tahar Djaout, die Mechanismen der algerischen Gesellschaft offenzulegen, die gefangen ist zwischen einer heroischen Vergangenheit und einer korrupten, bürokratisierten Gegenwart.“ (La Vie)