Mimi und Aïcha – Eine marokkanische Jugend in Europa. Roman von Mina Oualdlhadj
Aus dem Französischen von Addi Wild, Verlag Donata Kinzelbach Mainz April 2009.
Der Maghreb und der Westen haben den Blick aufeinander gerichtet in dieser realistischen Romanerzählung, die aber keine Autobiografie ist. Zorn wechselt mit Verzeihen in diesem Buch voller Zweifel und Hoffnung, Emotionen und Selbstironie. Die eine ist in Marokko geboren, die andere nicht. Die eine hat relativ offene Eltern, die andere nicht. Die eine gründet ihre eigene Familie, die andere nicht. Und doch könnten Aïcha und Mimi Schwestern sein: beide Frauen sind marokkanischer Herkunft, Freundinnen seit der Schulzeit, in Brüssel aufgewachsen. Sie haben die Zerrissenheit der Kinder erlebt, die zwischen zwei Kulturen hin- und hergezerrt sind. Beide haben den Übergang geschafft vom trockenen Flussbett Marokkos zum belgischen „flachen Land“, vom Couscous zu Muscheln mit Pommes frites, vom Aïd-Fest zu Nikolaus und Weihnachtsmann, vom unnachgiebigen väterlichen Starrsinn zum Kampf für Emanzipation der Mädchen. Die Autorin führt uns in das Labyrinth ihrer Erinnerungen und Gedanken, in die grotesken Enttäuschungen einer schmerzlichen Lehrzeit. Die lebendigen Dialoge zwischen den beiden Freundinnen – bisweilen recht spaßig – erlauben uns ein besseres Verständnis der oft gegensätzlichen Bestrebungen dieser „jungen Leute der zweiten Generation“, in der Zwickmühle zwischen zwei schwer vereinbaren Welten.
Dieses Buch ist für die Auseinandersetzung mit den Problemen von Migranten-Kindern vorzüglich geeignet. Gerade heute, wo viele Fremde in Deutschland um Asyl suchen, ist das Wissen um die jeweilige Kultur des Anderen Voraussetzung zum gegenseitigen Verstehen/Akzeptieren.
In Belgien wird das Buch im Schulunterricht verwendet – und selbst die deutsche Version wurde an den deutschen Schulen in Belgien zur Pflichtlektüre erklärt!
Das unmittelbare Zusammentreffen verschiedener Kulturen mit ihren abweichenden Wertesystemen und Lebensregeln bietet reichlich Konfliktstoff. Für die persönlich Betroffenen gestaltet sich das im Alltag oft schmerzlich. Dies gilt ganz besonders für Kinder und Jugendliche, die sich vielfach mit Situationen konfrontiert sehen, die sie überfordern. Am stärksten trifft dies Mädchen mit muslimischem Familienhintergrund.
Gute Literatur kann solches Erleben dem Leser nahe bringen und emotional nachvollziehbar machen. Literatur kann so zum Mittler zwischen Kulturen werden, ganz besonders dann, wenn der Roman lustig und lebendig daher kommt, wenn der Leser die Protagonisten ins Herz schließt und sich deren Sichtweise vergegenwärtigt.
Dies ist der Fall bei dem Roman „Mimi und Aïcha. Eine marokkanische Jugend in Europa“ von Mina Oualdlhadj, das in Belgien für großes Aufsehen sorgte. Sehr gerne habe ich den Titel ins Verlagsprogramm aufgenommen – und er wurde auch als Beitrag zur Völkerverständigung von der Landeszentrale für politische Bildung im großen Stil angekauft.
Das Buch handelt in sehr lebendiger und oft schmerzlich-witziger Form vom Heranwachsen zweier Mädchen marokkanischer Herkunft in der belgischen und europäischen Hauptstadt Brüssel. Die eine hat allerdings ein Stück Jugend in Marokko verbracht, die andere nicht. Autoritäre Familienstrukturen erleben beide, doch unterschiedlich stark. Die beiden Freundinnen teilen die gemeinsame Herkunft und ihre Wahrnehmung in Schule und Alltag, die interkulturelle Zerrissenheit, die Revolte gegen den Vater und den Kampf um eigenen Freiraum. Es ist ein Buch des Aufbegehrens und der Hoffnung, das mit versöhnlicher Milde schließt.
Über die Autorin
Mina Oualdlhadj, lebt seit ihrem elften Lebensjahr in Brüssel. Nach einem Abschluss als Master in französischer Sprache und Literatur wurde sie Schulmediatorin und Koordinatorin für sozio-kulturelle Projekte in Problemvierteln. Seit 2001 arbeitet sie im Kleinkindbereich, mit der ihr eigenen Leidenschaft, wenn es ums Menschliche geht.
Didaktische Notizen zu dem Jugendroman „Mimi und Aïcha“ von Mina Oualdlhadj
2009 hat jede interessierte Sekundarschule kostenlos zwei französische und zwei deutsche Exemplare des Buches erhalten. Nun stellt die Französischen Gemeinschaft den Lehrern Tipps zum pädagogischen Einsatz des Buches im Unterricht zur Verfügung. Diese „note pédagogique“ finden Sie unter diesem Artikel im Bereich „Downloads“.
Der Roman
Auf sehr persönliche und emotionale Weise schildert Mimi, eine in Brüssel lebende Belgierin marokkanischer Abstammung, ihren Werdegang und den ihrer besten Freundin Aïcha. Mimi hat Marokko schon sehr früh verlassen und keine Erinnerungen mehr an ihr Herkunftsland, während Aïcha sich sehr wohl noch an die – aus ihrer Sicht – unbeschwerten Tage in ihrer sonnigen Heimat erinnert.
Beide haben eine sehr schwere Kindheit und Jugend. Trotz ihres belgischen Passes werden sie oft diskriminiert – auch von den eigenen Lehrern. Noch schwieriger aber gestaltet sich das Verhältnis zu den Eltern. Diese erwarten, dass ihre Kinder auch in Europa nach den im Maghreb gültigen Regeln leben. Daraus ergeben sich für die beiden jungen Frauen große Konflikte. Das Leben von Mimi und Aïcha ist ein ständiger Kampf um ein wenig Freiheit und Selbstständigkeit.
Die lang ersehnte Klassenfahrt nach Florenz zum Beispiel darf die überdurchschnittliche
Schülerin Mimi nicht antreten, weil der strenge Vater bestimmt: „So lange ich lebe, wirst du keine Nacht außer Haus verbringen.“ Alle Gegenargumente nützen nichts, denn der Vater bestätigt zwar, dass er Vertrauen in seine Tochter habe, gibt jedoch dem sozialen Druck seiner eigenen Gemeinschaft nach: „[…] was würden meine Freunde denken? […] Wenn du mitfährst, hängen sie dir einen schlechten Ruf an.“
Doch nicht nur bei größeren Unternehmungen stoßen die Mädchen auf Schwierigkeiten. Selbst im Alltagsleben müssen sie zu ausgefeilten „Kriegslisten“ greifen: Ein Kinobesuch oder das Tragen eines modischen Rockes – beides strikt verboten! – werden zum risikoreichen Abenteuer. Mimis Schulfreundin Rachida erstarrt vor Schreck, als sie plötzlich – mit verkürztem Rock und offenem Haar – auf der Straße ihrem Vater begegnet. Mimi ermuntert die Freundin, starr an ihm vorüberzugehen, und tatsächlich erkennt der Vater sie nicht. Später erzählt er ihr, er habe ein Mädchen gesehen, das ihr ähnele, aber gekleidet gewesen sei wie ein Mädchen mit schlechtem Lebenswandel. Rachida hat zuviel Angst vor der Reaktion des Vaters, um „vor seinem Mörderblick den Besserwisser zu spielen“, doch zu gern hätte sie ihm ins Gesicht gesagt, dass ein Mädchen noch lange keine „Nutte“ ist, weil es sich anzieht wie die Mädchen seines Alters.
Die lebhafte und ungeschminkte Schilderung des Alltags dieser jungen Frauen veranschaulicht dem Leser, dass sie gewissermaßen eine doppelte Persönlichkeit entwickeln müssen, um den widersprüchlichen Anforderungen ihrer beiden Welten gerecht zu werden.
Einsatz im Unterricht
Der Roman liest sich einfach und ist aufgrund der Jugendsprache für Schüler leicht zugänglich. Lobenswert ist vor allem, dass er trotz seines flotten Tons tiefe Einblicke in die Problematik von Menschen mit Migrationshintergrund erlaubt. Anschaulich werden dem Leser die Konsequenzen vor Augen geführt, die die Immigration sowohl für die erste als auch für die zweite Generation mit sich bringt. Die Auswirkungen auf das Alltagsleben und die Mentalität unserer ausländischen Mitbürger werden anhand von Mimis und Aïchas Schicksal beispielhaft dargestellt. Ein packendes Buch, das sich – trotz einiger stilistischer Mängel – hervorragend als Diskussions- oder Projektgrundlage für 15-18-jährige Schüler eignet