Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung von Kamel Daoud
Buchtipps Maghreb #7 – Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung von Kamel Daoud. Aus dem Französischen von Claus Josten. Kiepenheuer & Witsch Verlag Feb. 2016.
Maghreb Magazin stellt regelmäßig Bücher aus und über dem Maghreb vor. Dazu zählen ausgewählte Werke der Literatur auf Deutsch und ins deutscher Übersetzung, deren Handlung im Maghreb spielt oder dort ihre Wurzeln haben. Die maghrebinische Literatur ist geprägt von der Kolonialgeschichte, Exil und Migration, Fundamentalismus, aber auch Hoffnung auf Veränderung und umfasst Literatur in verschiedenen Sprachen – arabischen, französischen und amazighischen – mit verschiedenen Stilen und Themen sowie historischen Hintergründen. Sie zeichnet sich durch einen hohen Grad an Welthaltigkeit und führt den Leser so in eine andere Region mit all ihren Verwerfungen, Brüchen, Katastrophen…
Verglichen mit der jungen arabischsprachigen Literatur des Maghreb erfreut sich die frankophone Literatur zweifellos eines großen Ruhms auf der ganzen Welt. Die französisch geschriebene Literatur des Maghreb gilt als eine lebendige Auseinandersetzung mit Tradition, Geschichte und aktuellen Lebensbedingungen. Als Tahar Ben Jelloun, der meisübersetzte und prominenteste marokkanische Gegenwartsautor, 1987 mit dem Prix Goncourt für seinen Roman „Die Nacht der Unschuld“ ausgezeichnet wurde, hat dies der gesamten Maghrebliteratur einen Popularitätsschub beschert. Die frankofone Literatur des Maghreb ist seitdem im deutschen Sprachraum verstärkt wahrgenommen worden, besonders nachdem maghrebinische Autorinnen und Autoren französischer Sprache mit wichtigen internationalen Preisen ausgezeichnet wurden, u.a. Tahar Benjelloun, Kateb Yassine, Assia Djebbar, Boualem Sansal, Hédi Kaddour, Kamel Daoud, Yasmina Khadra uvm. Einige couragierte Verlage (etwa Verlag Donata Kinzelbach, Unionsverlag, Lenos, Eichborn, Rotbuch, Edition Orient) haben vornehmlich marokkanische, algerische und tunesische Autoren in guten Übersetzung in ihrem Programm. Der Verlag Donata Kinzelbach hat in 30 Jahren Existenz 122 Titel von 68 Autoren aus dem Maghreb herausgebracht.
Kamel Daoud – Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung
Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung von Kamel Daoud. Aus dem Französischen von Claus Josten. Kiepenheuer & Witsch Verlag. Februar 2016.
Nacht für Nacht sitzt ein alter Mann in einer Bar in Oran und erzählt. Seine Geschichte und die seines Bruders Moussa, jenes Arabers, der 1942 von einem gewissen Meursault, den angeblich die Sonne blendete, am Strand von Algier erschossen wurde. Der weltberühmte Roman »Der Fremde« von Albert Camus erzählt, wie es dazu kam und davon, wie Meursault der Prozess gemacht und er am Ende nicht so sehr für den Mord, den er begangen hat, verurteilt wird, sondern für die Emotionslosigkeit, die er bei der Tat und auch später immer wieder zur Schau stellt. Das Opfer, der Araber, bleibt dabei stets namenlos. Indem er nun – 70 Jahre später – die Geschichte seines Bruders bis zu dessen gewaltsamem Tod erzählt, gibt der alte Mann dem Araber seinen Namen zurück und damit eine Identität und eine Geschichte. Und er macht seinem Ärger Luft, seiner Trauer, der Wut und der Frustration über sein eigenes Leben im Schatten dieses Todes.
Geschickt verzahnt Kamel Daoud in seinem Erstlingsroman die Geschichte der beiden Brüder mit der Geschichte Algeriens und mit dem Roman von Camus. Kraftvoll und poetisch zugleich erzählt Daoud von diesem Brüderpaar, ihrem Leben, ihrem Land, ihrer Liebe. Entstanden ist ein großer Roman darüber, wie die Vergangenheit unsere Gegenwart prägt und über die ungebrochene Kraft der Literatur, eine tiefere Erkenntnis, eine verborgene Wahrheit ans Licht zu bringen.
Dieser Roman gibt dem namenlosen Toten aus »Der Fremde« von Camus ein Gesicht. Das Buch gilt jetzt schon als Klassiker – gleichwertig zu Camus’ Roman.
In seinem beeindruckenden und in Frankreich mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman „Der Fall Meursault, eine Gegenermittlung“ rollt der algerische Autor Kamel Daoud einen der berühmtesten Morde der Literaturgeschichte neu auf. Er gibt dem arabischen Mordopfer aus Albert Camus‘ „Der Fremde“ eine Stimme.
Das Werk stellt nicht nur eine Auseinandersetzung mit Camus dar, es ist auch eine furiose Abrechnung mit dem Algerien von heute.
Das Buch spielt u.a. in Oran. Oran ist eine Küstenstadt in der Provinz Oran im Westen von Algerien. Sie ist die zweitgrößte Stadt Algeriens, nach der Hauptstadt Algier. Oran ist eine bedeutende Industriestadt, besitzt einen Hafen und ist Kulturzentrum.
In Oran spielt auch Albert Camus Roman ‚Die Pest‘.
Pressestimmen
„Ein großartiger Roman. In Zukunft wird man ›Der Fremde‹ und ›Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung‹ nebeneinander lesen.“ Le monde des livres
„Die literarische Sensation aus Frankreich – … jetzt schon ein Klassiker“ The Guardian
„In jeder Hinsicht ein Glücksfall“ Süddeutsche Zeitung
Rezensionen
1) Frankfurter Allgemeine – Jetzt hat der Tote endlich einen Namen – 17.02.2016
Mehr als siebzig Jahre nach dem Erscheinen des Romans „Der Fremde“ von Albert Camus kehrt der Algerier Kamel Daoud die Perspektive um.
Auf dem Grund dieses Buches liegt ein ungläubiges Staunen. Es wird nicht schwächer mit der Zeit. Lang mag es her sein, dass der Tod des Bruders den Erzähler dieses Romans in Verzweiflung stürzte, aber nun, da dieser Erzähler, in einer Bar im algerischen Oran sitzend, seinem fiktiven Gegenüber das ganze Drama entgegenschleudert, hört sich alles an, als wäre kaum ein Tag vergangen. „Mein Bruder hat die Kugeln abbekommen, nicht er! Es ist Moussa, nicht Meursault, oder? Das macht mich fertig. Sogar nach der Unabhängigkeit hat niemand auch nur versucht, den Namen des Opfers herauszubekommen, seine Adresse, seine Vorfahren, mögliche Kinder. Niemand.“
Meursault, Moussa, von wem ist hier die Rede? Einmal von der Hauptfigur des berühmten von Albert Camus stammenden Romans „Der Fremde“, in dem jener Meursault an einem sehr sonnigen Tag des Jahres 1942 an einem Strand einen „Araber“ erschoss, der nun, Jahrzehnte nach der Tat, in einem anderen Roman einen Namen bekommt: Moussa. Dieser andere Roman stammt von dem Algerier Kamel Daoud, ist vor zwei Jahren zunächst in Algerien erschienen und ein paar Monate später in Frankreich, wo er entgegen allen Erwartungen zwar nicht mit dem Goncourt-Preis ausgezeichnet, aber dennoch gleich als Meisterwerk gefeiert wurde, als eine Antwort auf Augenhöhe, die mit dem „Fremden“ von Camus fortan ein Diptychon bilden werde, wie eine Kritikerin begeistert schrieb.
Offensichtlich fühlte man sich in Frankreich ertappt von dem im Grunde einfachen Perspektivwechsel, auf dem Kamel Daoud seinen Roman „Der Fall Meursault – Eine Gegendarstellung“ aufgebaut hat. „Der Fremde“ ist ja nun wirklich kein Buch, dem es im Laufe der Jahre an Lesern gemangelt hätte. Doch die Frage, wer denn der „Araber“ sei, der da zu Tode kam, stand nie oder zumindest selten im Zentrum der Rezeption.
Dieses Versäumnis wandelt Daoud nun in eine Wutrede um, in eine Anklage, die sich der Saufkumpan seines Erzählers Haroun in der Bar stellvertretend für alle Leser anhören muss. So erklärt sich die direkte Anrede, die das Buch durchzieht: „Hast du was verstanden? Nein? Dann erkläre ich es dir.“ Aus Harouns Sicht war es so, dass sein Bruder Moussa, der eigentlich als Lastenträger arbeitete, eines Tages einfach am Strand lag und dort das unsagbare Pech hatte, auf einen Franzosen zu treffen, der nach dem Tod seiner Mutter keine Heimat mehr hatte und deswegen „in den Müßiggang und das Absurde“ verfiel. „Was muss er gelitten haben, der Arme! Kind eines Landes zu sein, in dem man ihm kein Leben geschenkt hat.“
Kamel Daoud, der, wie einst Camus, als Journalist arbeitet und seit Jahren in der algerischen Zeitung „Le Quotidien d’Oran“ eine Kolumne schreibt, macht in seinem Buch also zweierlei: Indem er dem toten Araber einen Namen und eine Vita gibt, bettet er das ganze Geschehen in einen historischen Kontext ein: die algerisch-französische Kolonialgeschichte. Und er löst auf diese Weise den die Philosophie von Camus prägenden Begriff des Absurden aus seiner Universalität. Die Absurdität, die bei Camus eng an ein umfassendes Gefühl der Gleichgültigkeit gekoppelt ist und in der viele Leser eine gute Beschreibung ihrer Lebensbedingungen in der modernen Welt gefunden zu haben glaubten, wird bei Daoud ihrerseits in einen bestimmten Kontext eingebunden. „Das Absurde tragen mein Bruder und ich auf unseren Schultern oder im Bauch unserer Heimat, und nicht dieser Typ“, heißt es an einer Stelle.
In weiten Teilen des Buches geht es also darum, zu ergründen, wie sich das Konzept des Absurden auf algerische Verhältnisse anwenden lässt, was Absurdität für einen Algerier bedeuten könnte. Das ist schwierig genug, wenn man noch in Erinnerung hat, wie Kamel Daoud vor einem Jahr im Gespräch mit dieser Zeitung (F.A.Z. vom 12. Februar 2015) erläuterte, dass die Algerier ein Volk seien, das noch viel zu sehr vom Konzept einer kollektiven Geschichte geprägt sei. „Die Geschichte ist in sich selbst eine Philosophie, weil sie eine bestimmte Wahrheit postuliert. Beim Absurden geht es aber eher um den Glauben des Individuums und weniger um den des Kollektivs“, sagte Daoud seinerzeit. Eigentlich gehe die auf das Individuum zielende Philosophie von Camus deshalb an den Bedürfnissen eines algerischen Publikums vorbei.
In seinem Roman hat Daoud dieses Dilemma zu überwinden versucht, indem er die schon erwähnte Gleichgültigkeit hervorhebt und zu so etwas wie einem Bindeglied macht. Sie ist das wiederkehrende Motiv in seiner Version der Geschichte, weil hier so gut wie keines der fünfzehn, jeweils nur ein paar Seiten zählenden Kapitel vergeht, ohne dass der Erzähler Haroun nicht abermals über das Desinteresse der Camus-Leser am Schicksal seines Bruders gewehklagt hätte. Wie in einer Endlosschleife zieht sich diese Klage durch das Buch und die Jahre. Denn die Zeit spielt nicht für, sondern gegen den Kläger: Für den Franzosen Meursault mag die Gleichgültigkeit anlasslos gewesen sein. Für den Algerier Haroun bedeutet sie eine fortgesetzte Demütigung durch die anderen.
Kamel Daoud wäre allerdings ein schlechter Camus-Leser, wenn er mit Hilfe von dessen Gedanken nicht zumindest versucht hätte, auch seinem eigenen Erzähler einen Weg aus der gefühlten Isolation zu weisen. Dass sein Lieblingsbuch von Camus eigentlich „Der Mensch in der Revolte“ war und nicht „Der Fremde“, das ihm lange „zu trocken“ schien, wie Daoud im Gespräch mit dieser Zeitung sagte, ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger Hinweis. Denn auch Haroun revoltiert gegen die andauernde Nichtbeachtung durch die anderen, indem er zum einen deren Lesart des Camus-Romans ablehnt und zum anderen selbst einen Mord begeht, einen spiegelbildlichen: Nicht in der Mittagshitze, sondern um Mitternacht tötet er seinerseits einen Fremden, dem er zwar immerhin das Recht auf einen eigenen Namen gewährt (das Opfer heißt Joseph Larquais), dessen einziges Vergehen aber, wenn überhaupt, darin bestand, Franzose zu sein.
Nun, zu dem Zeitpunkt, zu dem Haroun uns seine Geschichte erzählt, weiß er natürlich längst, dass er mit diesem Mord in eine Falle getappt ist, dass die Rache keine Erlösung bringt, weder für ihn noch für sein Land. Denn Kamel Daoud verbindet das Schicksal seines Erzählers auch in diesem Punkt explizit mit dem Algeriens. Er datiert den Mord an dem Franzosen auf den Juli 1962 – das ist der Monat, in dem Algerien nach einem langen Krieg gegen die französische Kolonialmacht die Unabhängigkeit erlangte.
Mit dem Juli 1962 verbindet sich daher eine doppelte Hoffnung, in beiden Fällen erfüllt sie sich nicht. Als wir Leser dem Erzähler Haroun in Oran begegnen, ist er ein alter Mann, der genau sieht, wie sich sein Land verändert hat: wie der Nachbar immer mehr Koranverse krakeelt, wie immer mehr Bars schließen, wie es immer schwieriger für einen alten Junggesellen wie ihn wird, den eigenen Lebenswandel zu rechtfertigen.
Mehr als „Gegendarstellung“ ist der Roman von Kamel Daoud daher eine Anwendung der Camusschen Begrifflichkeiten auf ein algerisches Leben, wozu im Übrigen gut passt, dass Daoud Camus häufig wörtlich zitiert und lange Zitate aus dem „Fremden“ in kursiv gesetzter Schrift in seinen Text einbaut. Sein Roman ist aber auch der großartig gelungene Versuch, einen Eindruck von den ungleichen Wahrnehmungen zu geben, die das algerisch-französische Verhältnis bis heute prägen. Dass sein Werk nie für sich selbst, sondern stets in Bezug zum „Fremden“ von Camus zu lesen sein wird, ist eine Einschränkung, mit der Daoud sehr gut wird leben können.
2) Süddeutsche Zeitung – Brüder unter der Sonne – 19.02.2016
Kamel Daoud erzählt in „Der Fall Meursault“ Camus’ „Der Fremde“ aus arabischer Sicht neu.
Doch sein Anti-Camus-Roman ist bei Weitem nicht so gut wie das Original
VON TOBIAS LEHMKUHL
Wer einmal „Der Fremde“ gelesen hat, wird sich nicht an das Buch erinnern, ohne zu spüren, wie ihn die Sonne blendet, wie ihre Strahlen sich geradezu in den Kopf bohren und dort auszulöschen trachten, was an Vernunft, Geschichte, was an Sinn jemals da gewesen sein mag. Alles ist in gleißende, verzehrende Helligkeit getaucht – eine Nahtoderfahrung, die es nur natürlich erscheinen lässt, dass jemand stirbt.
In Albert Camus’ Roman wird dieser Tote schlicht „der Araber“ genannt. Ihm einen Namen zu geben, darum geht es nun in Kamel Daouds „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“. Der Roman erregte bei seinem Erscheinen in Frankreich großes Aufsehen und wurde sogleich für den Prix Goncourt nominiert (SZ vom 23. Juli 2014).
Mit einigem Abstand muss man sich allerdings fragen, ob man es mit Daouds Version des „Fremden“ tatsächlich mit einem, wie behauptet wurde, gleichrangigen Gegenstück zu tun hat, oder ob nicht allein die Idee, die Geschichte des „Arabers“ zu erzählen und mithin eine Ikone der französischen Literatur auf den Kopf zu stellen, derart elektrisierend war, dass viele Kritiker vielleicht etwas voreilig aus dem Häuschen gerieten.
Erzähler des Romans ist der Bruder des Toten. Er sitzt in einer Bar in Oran, und berichtet einem namenlosen „Literaturwissenschaftler“ über einige Tage und mehrere Flaschen Wein hinweg von jenem Tag im Jahr 1942, als besagtem Meursault die Sonne das Hirn verbrennt und er vier Kugeln auf einen ihm völlig Unbekannten abfeuert. Moussa heißt dieser Fremde, und ihm einen Namen zu geben, ist der auf die Dauer etwas schwache Motor dieser Erzählung.
Nicht genug, dass uns Frankreich über Jahrzehnte drangsaliert und ausgebeutet hat, nicht einmal einen Namen haben die Franzosen jenen gelassen, die sie ermordet haben. So ließe sich die Haltung des Erzählers zusammenfassen. Sie ist nur recht und billig – wäre denn „Der Fremde“ ein Bericht und sein Verfasser der Mörder selbst. Es handelt sich aber um einen bis ins Letzte durchkomponierten Roman, einen Roman von geradezu klassischer Strenge, der in atmosphärisch extrem dichten Bildern von einem Mann erzählt, dem alles einerlei ist – der Tod seiner Mutter, die Liebe einer gewissen Marie, die vermeintliche Freundschaft eines Nachbarn. Nicht im Geringsten interessiert er sich dafür, wie dieser von ihm getötete Araber geheißen haben mag. Der Vorwurf der Gleichgültigkeit also läuft ins Leere, denn um eben diese Gleichgültigkeit geht es ja gerade.
Am Ende freilich kommt es darauf gar nicht an, spielt es auch keine Rolle, ob nun Camus oder Meursault der Autor von „Der Andere“, wie das Buch bei Daoud heißt, ist. Am Ende will man – und dies entspricht nun ebenfalls dem Zeitgeist, daher auch die Aufmerksamkeit für Daouds Werk – etwas über die andere, fremde Seite, eben die der „Araber“ erfahren, um sie besser zu verstehen und das allgemeine Gefühl der Bedrohung durch „den Islam“ vielleicht etwas abzumildern.
Mit dieser Erwartungshaltung zumindest spielt der Titel „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“. Von einer Gegendarstellung erwartet man sich neue Aspekte, eine Verschiebung der Perspektive, ein „so war es nicht, sondern folgendermaßen“. Doch nichts davon in Daouds Roman. Recht eigentlich kann man dieses Buch nicht einmal einen Roman nennen, erwartet man denn so etwas wie Handlung, eine Geschichte. Der Erzähler aber behauptet nur ein ums andere Mal, eine Geschichte, seine Geschichte zu erzählen, in der gleichen Sprache wie der Mörder zwar, „aber diesmal, wie das Arabische, von rechts nach links“.
In Wirklichkeit jedoch räsoniert er lediglich darüber, wie schwer ihm das Leben durch den Tod seines Bruders geworden ist, wie sehr dieser Tod seine Mutter mitgenommen hat. Ja, am Ende staunt man, wie lang zweihundert Seiten sein können, wenn sie mit bloßem Gerede gefüllt sind, wenn nur ziellos monologisiert wird.
Zwar deutet Moussas Bruder eine Liebesgeschichte an, behauptet, kurz nach der Unabhängigkeit Algeriens, in einer Art verspäteter Rache, einen Franzosen erschossen zu haben. Doch diese „Ereignisse“ wirken aufgesetzt und konstruiert, während in Camus’ „Der Fremde“ alles von einer beklemmenden Folgerichtigkeit ist – die Fahrt zur Beerdigung der Mutter, der Gang an den Strand, ja selbst das stumpfe Zum-Fenster-Hinausstarren ist bei Camus Teil eines zum äußersten gespannten Erzählbogens.
Der Grund, warum in „Der Fremde“ vermeintliche Banalitäten derart aufgeladen sind und jedes Sandkorn seinen Platz in der Geschichte hat, liegt natürlich in der sprachlichen Gestalt dieses Kunstwerks. Ihr zollt auch Daouds Erzähler Tribut: „Wenn dein Held die Ermordung meines Bruders so gut erzählt, dann konnte er das, weil er auf das Gebiet einer völlig unbekannten Sprache vorgedrungen war, die viel mächtiger und so überwältigend ist, weil sie gnadenlos den Stein der Worte schleift, so schnörkellos wie die euklidische Geometrie.“
Das kann man nun von der ganz unspezifischen, ja selbst in diesem durchaus treffenden Lob etwas unbeholfenen und grammatikalisch zweifelhaften Sprache Daouds weiß Gott nicht behaupten – und daran ist nicht allein die Übersetzung schuld. Darum auch, weil es an Gestaltungskraft mangelt, fasst uns das Leid des Erzählers nicht an, darum scheinen all seine Reflexionen ins Leere zu laufen, darum ist diese Geschichte nicht gut. Darum hat sie, recht bedacht, den Namen „Geschichte“ nicht wirklich verdient.
Statt die „wahre“ Geschichte zu erzählen, erschöpft sich das Buch in einem ziellosen Monolog
Wäscht er die Hände in Unschuld? Marcello Mastroianni in der Roman-Verfilmung als Meursault.
Über den Autor
Kamel Daoud (* 17. Juni 1970 in Mostaganem, Algerien) ist ein algerischer Journalist und Autor, der in französischer Sprache schreibt. Er lebt und arbeitet in Oran.
Daoud ist der Sohn eines Polizisten und hat als einziges Kind der Familie studiert. Nach einem Studium der Mathematik studierte er Literatur. 1994 ging er zur französischsprachigen Tageszeitung Le Quotidien d’Oran, wo er acht Jahre lang Chefredakteur war. In dieser Zeit schrieb er sein erstes Buch Raina raïkoum (Unsere Meinung, eure Meinung). Er entwickelte sich und seine Meinungen von konservativ zu bissig, besonders gegenüber den algerischen Machthabern unter Abdelaziz Bouteflika. Seine Artikel erschienen unzensiert auf Facebook, des Weiteren schrieb er für die elektronische Zeitschrift Algérie-focus und für Slate Afrique.
In den letzten Jahren hat Daoud sechs weitere Werke veröffentlicht, darunter Erzählungen und 2014 den Roman Meusault, contre-enquête (Deutsch 2016: Der Fall Meursault – Eine Gegendarstellung), der durch den Roman Der Fremde von Albert Camus inspiriert wurde. Der Roman polarisierte: Tobias Lehmkuhl kritisierte in der Süddeutschen Zeitung den Roman ob seiner unbeholfenen Sprache und die Gegengeschichte, die der Protagonist des Autors zu erzählen vorgibt, als monologisierendes Gerede.[1] Dirk Fuhrig lobte im Deutschlandradio Kultur den Roman als „einer der anregendsten und wichtigsten (…) über das Verhältnis des Westens zur arabischen Welt. Sowohl wegen seiner interkulturellen Dimension als auch wegen seiner literarisch feinen Methode.“[2] Er war 2014 in der Endauswahl für Frankreichs wichtigsten Literaturpreis, den Prix Goncourt, und wurde schließlich in der Kategorie „bester Debütroman“ ausgezeichnet. Quelle: wikipedia.org
Auszeichnungen
2015: Prix Goncourt für einen Debütroman (für Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung)
2014: Prix François Mauriac
2014: Prix des cinq continents de la francophonie
2008: Prix Mohammed Dib
Werke
L’Arabe et le vaste pays de ô. 2008 (Nur auf Französisch)
Monotaure 504 (Erzählungen). 2011 (Nur auf Französisch)
Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung. 2013 (in Deutsch: 2016)