Dif Hassen – Algerischer Dichter
Es ist halb zwölf. Wiskanov ist noch wach. Er sitzt wie immer allein am kleinen Schreibtisch und denkt anSarah und raucht. Sarah ist nicht mehr da. Die Erinnerungen lassen sich durch die Zeit nicht vergessen und der Schmerz des Verlierens eines Lebenspartners schwächt sich nicht ab. Halbaufgerauchte Zigaretten, leere Whiskyflaschen und Fotos von Hochzeit und Flitterwochen liegen im Zimmer verstreut. Da läutet das Telefon.
„He Wiska, ich bins.“- Es ist Paulski. Er brüllt aus dem Hörer. – „Wo versteckst du dich?“ „Hey Paul!“ Wiskanov spricht leise.
„Man vermisst dich, Kumpel! Und was ist mit deiner Stimme los? Ich komm jetzt mal zu dir, OK?“ Wiskanov legt auf und geht ans Fenster. Vom vielen Rauchen sind das Fensterglas blind, der vormals weiße Vorhang gelb und grau, seine grünen Streifen zu schwarzen geworden. In der Wohnung hinter ihm Unordnung, Seit Sarahs Weggehen hat Wiskanov nichts mehr angefasst. Durchs schlierige Fensterglas sieht die Stadt lebendiger aus als am Tag, das machen die Autos auf der Straße gegenüber – mit ihrer unregelmäßigen Lichterkette aus Scheinwerfern. Dort draußen geht das Leben unbeirrt weiter, bleibt die Zeit nicht stehen – hier drinnen sehr wohl.
Eine halbe Stunde später ist Paulski da. Als er klopft, verlässt Wiskanov das Fenster und öffnet ihm die Tür. Er hat einen Korb mitgebracht, umarmt Wiskanov zur Begrüßung und geht geradewegs in die Küche. „Ich habe was zu essen mitgebracht“, sagt er. Das erklärt den Korb. Paulski, dynamisch und lebhaft, ist ein Genießer. Anders als Wiskanov genießt er jede Minute in seinem Leben. Schon immer. Den Sinn des Lebens begreift er sehr wohl, und die Gegenwart ist ihm das Allerwichtigste.
Wiskanov bedankt sich matt. „Das solltest du aber nicht. Ich habe eigentlich keinen Hunger.“ „Kein Ding! Ich bin hungrig“, sagt Paulski. Wiskanov zündet eine neue Zigarette an und tritt auf den Balkon.
Die Freunde haben sich länger nicht gesehen. Und im nächsten Moment sitzen sie zusammen auf dem Balkon. Wiskanov raucht schweigend, während Paulski ihn anstarrt. Schließlich bricht er das Schweigen: „Vermisst du sie noch?“ Wiskanov sagt nichts. Die Schmerzen des ewigen Abschieds, der Einsamkeit und der Leere spiegeln sich doch in seinen schlaflosen Augen wider.Paulski beharrt: „Hast du siewirklic h geliebt? Erzähl mir doch von eurer Geschichte! Wie habt ihr euch kennengelernt?“
Wiskanov lässt die Hand, die die Zigarette hält, sinken, hustet und beginnt tatsächlich zu erzählen: „Wir waren genauso wie diese Sterne gewachsen. Als wir Kinder waren,besuchten wir dieselbe Grundschule der Stadt, wo wir immer zusammen lernten und spielten. Ich erinnere mich genau an den Tag, in dem wir zum ersten Mal mit einander sprachen. Es war der Herbst von vor dreißig Jahren und wir gingen in die dritte Klasse. Im Hof der Schule saß sie sich unter den Nadelbaum und schaute zu mir, während ich Fußball spielte. Im Spiel fiel ich auf den Boden leicht verletzt, als ich gegen einen Freund stieß. Da stand sie auf und eilte sich zu mir. Sie nahm ein rosafarbenes Taschentuch aus ihrer Jackentasche und lag es auf die kleine Wunde meines Armes. Die Kinder machten mit dem Spiel weiter und ich saß mich mit ihr in den Schatten des Baums. Sie teilte mir ihr Brotstückchen und sagte, ich werde wieder gesund sein. Voller Schüchternheit aß ich das kleine Brotstückchen. Dann sah ich in das schöne Taschentuch auf meinen Arm und wollte danach fragen, wo sie es herhatte. Lächelnd sagte sie: „Meine Mutter hat mir es gegeben“ dann trug sie ihre Schulmappe auf ihren kleinen Schultern und ging.Einmal hörte ich die Schülerinnen der Klasse von ihr sprechen. Ich wusste denn, dass ihre Mutter seit schon langer Zeit
gestorben war. Es tat mir tiefes Leid für sie. Sarah sah jedoch wie immer ganz lebhaft und voller Schwung aus. Man kannte sie an ihrem freundlichen Lächeln und sympathischen Verhalten. Diese Neuigkeit war für mich irgendwie ein großes Motiv,
sodass wir uns nachher eng befreundeten. Doch Ich war sehr neugierig, aber ich konnte sie danach niemals fragen, was mit ihrerMutter geschah. In jener Zeit fühlte ich immer, dass es was hinter diesen strahlenden Augen steckte.
So gingen die Jahre dahin, und es war eine unvergessliche Kindheitszeit mit Sarah. Nachdem ich mein Studium beendet hatte, ging ich zum Militär, wo ich etwa zwei Jahre lang diente.“
Wiskanov macht eine Pause, fingert nach einer neuen Zigarette in der Zigarettenschachtel. Aber die ist offenbar leer. Paulski reicht ihm eine: „Aber ihr habt euch doch danach nochmal getroffen!?“
„Ja, ja, klar.“ Wiskanov zündet die Zigarette an, zieht den linken Ärmel seines weißen Hemds auf, blickt kurz auf eine alte und große Wunde, als wollte er sich überzeugen, dass sie noch da ist. „Ich wurde während eines Militäreinsatzes schwer verletzt und ins Krankenhaus gebracht. Ich war bewusstlos, und als ich wieder aufwachte, fand ich mich in einem Bett liegend. Eine Krankenschwester begrüßte mich. Sie hatten mir den linken Arm operiert. Ich hatte keine Schmerzen mehr und fühlte mich gesund, sodass ich aufstehen und aus dem Krankenhaus gehen wollte. Aber sie verboten es mir. Mein Zustand würde nochmals von der Operateurin überprüft werden müssen.
Ich wartete, noch in meinem Bett, bis besagte Operateurin endlich kam. Sie näherte sich zu mir, schaute mit ihrer kleinen Lampe in meinen Augen durch, prüfte sie nach und sagte:„Gesund. Jetzt schauen wir nach der Wunde“. Als sie sich mit meiner Wunde beschäftigte, fielen meine Augen zufällig auf die Angabe (Dr. Operateurin Sarah Lavanov).
Nachdem sie damit fertig war, sprach sie: „Alles in Ordnung. Sie können heute Abend aus dem Krankenhaus entlassen werden“ drehte sich um und ging bis in die Tür, da rief ich sie von hinten und fragte: „Erinnerst du dich nicht?“, „Woran eigentlich?“ fragt sie enttäuscht. Ich zog das Taschentuch aus meiner Jackentasche neben mir und erklärte: „Daran“. Sie lehnte sich mit dem Rücken ganz bedrückt gegen die Wand und löste sich in Tränen. Dann nahm sie es von mir und ging bis zum Fenster, woraus sie eine lange Weile nach draußen guckte und in den Erinnerungen versank.
Abends kam sie wieder zu mir. Sie bedankte sich bei mir für das Taschentuch und sagte, dass es die einzige Erinnerung an ihre Mutter gewesen war. Ich starrte lange auf ihre magischen Augen, die ich niemals vergaß und dachte dabei über unsere Kindheitszeit nach, denn die Bilder jener Zeit ließen sich weder aus meinem Gedächtnis noch aus ihrem Gedächtnis verschwinden. Nun sah ich in ihr nicht nur meine fröhliche Kindheit, sondern auch mein traumhaftes Schicksal, dass ich zum zweiten Mal verwundet und von ihr wieder geheilt wurde.
Nachher verliebte ich mich zum ersten Mal meines Lebens; Ich fand mich in Sarah Lavanov verliebt, die junge Frau, die sich schicksalhaft um meine ganzen Wunden kümmerte. Sie liebte mich auch sehr, sodass wir nach ein paar Monaten heirateten. Seither genossen wir unsere besten Zeiten zusammen und verbrachten unvergessliche Flitterwochen. Alles war in Ordnung bis zu jener Herbstnacht. Wir saßen zusammen auf dem Sofa im Wohnzimmer, sie lehnte den Kopf gegen meine Brust und sagte: „Wie schön es doch bei dir ist!“
Wiskanov versagt ein wenig die Stimme. Er räuspert sich. Dann zieht er das rosa Taschentuch aus seiner Tasche, wirft einen verdächtig silbrig schimmernden Blick in den Abendhimmel und zuckt die Schultern. Von den Jahren der Kindheit habe er ihr da erzählt. Von den Jahren beim Militär, und wie er das Taschentuch immer bei sich getragen habe. Und dann habe sie angefangen, am ganzen Leib zu zittern. Habe sich aufgerichtet, sein Gesicht in die Hände genommen und sei zusammengesackt.
Paulski steht auf, legt eine Hand auf Wiskanovs Schulter, dann geht er in die Küche. Er holt den Korb, stellt ihn zwischen sie beide und wühlt darin herum. Während Paulski die Flasche öffnet, sagt Wiskanov: „Es war das Herz.“ Die Flasche geht von Hand zu Hand.