Die Wunden unserer Brüder von Joseph Andras. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Carl Hanser Verlag, München 2017.
Maghreb Magazin stellt regelmäßig Bücher aus und über dem Maghreb vor. Dazu zählen ausgewählte Werke der Literatur auf Deutsch und ins deutscher Übersetzung, deren Handlung im Maghreb spielt oder dort ihre Wurzeln haben. Die maghrebinische Literatur ist geprägt von der Kolonialgeschichte, Exil und Migration, Fundamentalismus, aber auch Hoffnung auf Veränderung und umfasst Literatur in verschiedenen Sprachen – arabischen, französischen und amazighischen – mit verschiedenen Stilen und Themen sowie historischen Hintergründen. Sie zeichnet sich durch einen hohen Grad an Welthaltigkeit und führt den Leser so in eine andere Region mit all ihren Verwerfungen, Brüchen, Katastrophen…
Verglichen mit der jungen arabischsprachigen Literatur des Maghreb erfreut sich die frankophone Literatur zweifellos eines großen Ruhms auf der ganzen Welt. Die französisch geschriebene Literatur des Maghreb gilt als eine lebendige Auseinandersetzung mit Tradition, Geschichte und aktuellen Lebensbedingungen. Als Tahar Ben Jelloun, der meisübersetzte und prominenteste marokkanische Gegenwartsautor, 1987 mit dem Prix Goncourt für seinen Roman „Die Nacht der Unschuld“ ausgezeichnet wurde, hat dies der gesamten Maghrebliteratur einen Popularitätsschub beschert. Die frankofone Literatur des Maghreb ist seitdem im deutschen Sprachraum verstärkt wahrgenommen worden, besonders nachdem maghrebinische Autorinnen und Autoren französischer Sprache mit wichtigen internationalen Preisen ausgezeichnet wurden, u.a. Tahar Benjelloun, Kateb Yassine, Assia Djebbar, Boualem Sansal, Hédi Kaddour, Kamel Daoud, Yasmina Khadra uvm. Einige couragierte Verlage (etwa Verlag Donata Kinzelbach, Unionsverlag, Lenos, Eichborn, Rotbuch, Edition Orient) haben vornehmlich marokkanische, algerische und tunesische Autoren in guten Übersetzung in ihrem Programm. Der Verlag Donata Kinzelbach hat in 30 Jahren Existenz 122 Titel von 68 Autoren aus dem Maghreb herausgebracht.
Joseph Andras – Die Wunden unserer Brüder
Die Wunden unserer Brüder von Joseph Andras. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Carl Hanser Verlag, München 2017. ISBN 9783446256415
Gebunden, 160 Seiten, 18,00 EUR

Die wahre Geschichte des einzigen Europäers, der 1957 im algerischen Unabhängigkeitskrieg hingerichtet wurde – ein preisgekröntes, poetisches Debüt. Fernand Iveton ist dreißig, als er im November 1956 für die algerische Unabhängigkeitsbewegung in einem verlassenen Gebäude eine Bombe legt. Der Algerienfranzose will ein Zeichen setzen, ohne Opfer zu riskieren. Doch Iveton wird verraten und noch vor der Detonation verhaftet. Nach tagelanger Folter verurteilt ein Militärgericht in Algier ihn zum Tode, und unter Mitterrand, dem damaligen Justizminister Frankreichs, wird er am 11. Februar 1957 hingerichtet. Ein Franzose auf Seiten der Algerier ist nicht tragbar. Joseph Andras erzählt diese wahre, ungeheuerliche Geschichte in all ihrer Aktualität. Sein gefeiertes Debüt ist ein literarisches Kunststück, „kurz und dicht birgt es eine unerhörte Kraft.“ (Le Monde)
Das Buch hat in Frankreich für Furore gesorgt: Der Algerienkrieg ist ein heikles Thema. Das macht „Die Wunden unserer Brüder“ zu einem politisch wichtigen Buch.
Der Algerienfranzose Iveton war Mitglied der Kommunistischen Partei. Die Ermordung seines Freundes und Mitkämpfers Henri durch französische Soldaten machte aus einem passiven Mitglied einen, der ein Zeichen setzen wollte. Iveton legte 1956 in einer Abstellkammer der Fabrik, in der er arbeitete, eine Bombe ab, die nach Dienstschluss deponieren sollte. Er wollte also keine Menschen gefährden, „keine Toten, vor allem keine Toten!“, sondern bloß seinen Protest gegen die französische Kolonialpolitik in Algerien sichtbar machen. Iveton wurde gefasst, bevor die Bombe explodieren konnte. Und obwohl niemand zu Schaden kam, wurde er nur wenige Monate später guillotiniert.
Algerienkrieg – ein heikles Thema
Was aus heutiger Sicht völlig unverständlich erscheint, lässt sich nur mit der politisch aufgeheizten Atmosphäre erklären: Kurz zuvor hatten zwei schwere Attentate algerischer Unabhängigkeitskämpfer des FLN viele Opfer gefordert, Frankreich sah seine Souveränität in der wichtigsten Kolonie in Frage gestellt. An Fernand Iveton sollte deshalb ein Exempel statuiert werden, er starb „für Frankreich“, wie Joseph Andras den damaligen Präsidenten René Coty zitiert.
Andras‘ Buch hat in Frankreich für viel Aufregung gesorgt. Der Algerienkrieg ist immer noch ein heikles Thema, man spricht lieber von den „Ereignissen in Algerien“. Und die Affäre Iveton ist besonders pikant, weil alle Akten dazu vernichtet wurden und der damalige Justizminister François Mitterrand hieß. Derselbe Mitterrand, der bei seinem Amtsantritt als Präsident die Todesstrafe abschaffte – als wolle er sich von seinen Verfehlungen im Algerienkrieg und speziell vom Fall Iveton reinwaschen.
Ein politisch wichtiges Buch
Joseph Andras, der als Autor anonym bleibt, hat in schriftlichen Interviews erklärt, ein politisches Anliegen zu haben. Er wolle an ein politisches Tabu rühren, um endlich ein offeneres Gespräch über Frankreichs immer noch schwieriges Verhältnis zu Algerien in Gang zu bringen. Das hat er geschafft, wie man an der kontroversen Rezeption des Buches in Frankreich sieht.
„Die Wunden unserer Brüder“ ist aber nicht nur ein politisch wichtiges Buch, sondern auch sehr feine Literatur: Auf nur knapp 150 Seiten verdichtet Andras in kurzen, schlaglichtartigen Szenen, die einem beim Lesen den Atem rauben, wie der französische Staat aus dem untadeligen Arbeiter Iveton in kürzester Zeit einen gefolterten Todeskandidaten macht. Dazwischen schaltet Andras immer wieder etwas längere, anrührende Passagen über Ivetons große Liebe zu seiner Frau Hélène, die Iveton als Menschen zeigen und niemals ins Kitschige kippen. Ein kleines, wichtiges, starkes Buch.
Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 28.09.2017
Rezensent Joseph Hanimann ist schwer beeindruckt von Joseph Andras‘ so sachlichem wie dunklem Debütroman um den 1957 vom französischen Militär in Algier hingerichteten Kommunisten Fernand Iveton. Dass Andras intellektuelle Pariser Debatten auslässt und stattdessen in Rückblenden Kindheit und erste Liebe des Helden in die finsteren Beschreibungen der Gefangenschaft einflicht, findet Hanimann sinnvoll. Besonders stark wirken auf ihn die Tatsachen, da der Autor trocken und streng schreibt, mit Sätzen „wie Faustschlägen“. Auch der Verzicht auf Schuldzuweisungen und Schwarzweißmalerei nimmt den Rezensenten für den Text ein. Zum Schluss lobt Hanimann noch die Übersetzung durch Claudia Hamm.
Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 23.09.2017
Rezensent Jürgen Ritte macht das Getue um die Autorschaft des Debütanten Joseph Andras nicht mit. Stattdessen konzentriert er sich auf die Erzählung. Die wahre Skandalgeschichte um den nach einem Attentatsversuch während des Algerienkrieges hingerichteten Kommunisten Fernand Iveton erzählt der Autor dermaßen gekonnt, dass Ritte an ein Debüt eigentlich nicht glauben mag, ohne Larmoyanz und Parteilichkeit, kühl, doch empathisch, fast wie Flaubert, meint Ritte. Wie Andras Attentat, Gefangenschaft, Verhandlung, Lebens- und Liebesgeschichte miteinander verbindet, scheint Ritte meisterhaft, auch in der Komposition.
Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 24.08.2017
Martin Oehlen wird mit Joseph Andras‘ Erzählung an die Greueltaten der französischen Armee im Algerienkrieg erinnert. Der im Buch verhandelte historisch belegte Fall des kommunistischen Algerienfranzosen Fernand Iveton geht dem Rezensenten unter die Haut. Andras‘ drastische Schilderungen von Folterung und Prozess, verbunden mit Familienszenen aus dem Leben des Opfers, zeigt Oehlen die ganze Härte des französischen Staates bei der Algerienfrage. Die historische Einordnung im Anhang bietet dem Leser Orientierung, so Oehlen.
Über den Autor Joseph Andras
Joseph Andras, geboren 1984, lebt in der Normandie. Für seinen Debütroman „Die Wunden unserer Brüder“ wurde er mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, lehnte ihn jedoch ab.
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