2084 – Das Ende der Welt von Boualem Sansal
2084. Das Ende der Welt von Boualem Sansal. Aus dem Französischen von Vincent von Wroblewsky. Merlin Verlag, Gifkendorf 2016.
Maghreb Magazin stellt regelmäßig Bücher aus und über dem Maghreb vor. Dazu zählen ausgewählte Werke der Literatur auf Deutsch und ins deutscher Übersetzung, deren Handlung im Maghreb spielt oder dort ihre Wurzeln haben. Die maghrebinische Literatur ist geprägt von der Kolonialgeschichte, Exil und Migration, Fundamentalismus, aber auch Hoffnung auf Veränderung und umfasst Literatur in verschiedenen Sprachen – arabischen, französischen und amazighischen – mit verschiedenen Stilen und Themen sowie historischen Hintergründen. Sie zeichnet sich durch einen hohen Grad an Welthaltigkeit und führt den Leser so in eine andere Region mit all ihren Verwerfungen, Brüchen, Katastrophen…
Verglichen mit der jungen arabischsprachigen Literatur des Maghreb erfreut sich die frankophone Literatur zweifellos eines großen Ruhms auf der ganzen Welt. Die französisch geschriebene Literatur des Maghreb gilt als eine lebendige Auseinandersetzung mit Tradition, Geschichte und aktuellen Lebensbedingungen. Als Tahar Ben Jelloun, der meisübersetzte und prominenteste marokkanische Gegenwartsautor, 1987 mit dem Prix Goncourt für seinen Roman „Die Nacht der Unschuld“ ausgezeichnet wurde, hat dies der gesamten Maghrebliteratur einen Popularitätsschub beschert. Die frankofone Literatur des Maghreb ist seitdem im deutschen Sprachraum verstärkt wahrgenommen worden, besonders nachdem maghrebinische Autorinnen und Autoren französischer Sprache mit wichtigen internationalen Preisen ausgezeichnet wurden, u.a. Tahar Benjelloun, Kateb Yassine, Assia Djebbar, Boualem Sansal, Hédi Kaddour, Kamel Daoud, Yasmina Khadra uvm. Einige couragierte Verlage (etwa Verlag Donata Kinzelbach, Unionsverlag, Lenos, Eichborn, Rotbuch, Edition Orient) haben vornehmlich marokkanische, algerische und tunesische Autoren in guten Übersetzung in ihrem Programm. Der Verlag Donata Kinzelbach hat in 30 Jahren Existenz 122 Titel von 68 Autoren aus dem Maghreb herausgebracht.
Boualem Sansal – 2084. Das Ende der Welt
Aus dem Französischen von Vincent von Wroblewsky. Merlin Verlag, Gifkendorf 2016, 288 Seiten
ISBN 9783875363210
In „2084 – Das Ende der Welt“ entwirft Boualem Sansal die Vision einer religiösen Diktatur. Nach dem Vorbild von Orwells „1984“ beschreibt er eine Glaubensdiktatur. Es ist der radikale Islam, der die Macht übernommen und alle Erinnerungen an die Zeit davor ausgelöscht hat.
In Abistan, einem riesigen Reich der fernen Zukunft, bestimmen die Verehrung eines einzigen Gottes und das Leugnen der Vergangenheit das Herrschaftssystem. Jegliches individuelle Denken ist abgeschafft; das Eingeschworensein auf ein allgegenwärtiges Überwachungssystem steuert die Ideen und verhindert abweichendes Handeln. Offiziell heißt es, die Bevölkerung lebt einvernehmlich und im guten Glauben. Doch Ati, der Protagonist dieses Romans, der ausdrücklich anknüpft an Orwells Klassiker „1984“, hinterfragt die vorgegebenen Direktiven: Er macht sich auf die Suche nach einem Volk von Abtrünnigen, das in einem Ghetto lebt, ohne in der Religion Halt zu suchen … Während George Orwell in seinem Zukunftsroman das totalitäre Regime Stalins vor Augen hatte, entwirft Boualem Sansal in seinem Roman das Szenario eines Regimes, das auf der religiösen Überhöhung einer Ideologie beruht und sich die Suche des Individuums nach persönlichem Glück auf erschreckende Weise zunutze macht: Das vom System auferlegte Streben nach spiritueller Erleuchtung diktiert das Leben eines jeden Bürgers und wird zum Motor der Gemeinschaft.
Sansals Vision ist zugleich faszinierend und beunruhigend – in einer Zeit gesellschaftlicher Umbrüche mahnt sie zu gelebter Brüderlichkeit, toleranter Demokratie und einsichtiger Freiheit.
Leseprobe
Boualem Sansal -2084. Das Ende der Welt_Leseprobe
Über den Autor
Der Algerier Boualem Sansal wurde 1949 in Téniet el Had geboren. Erst im Alter von 50 Jahren begann die literarische Karriere des gelernten Ingenieurs und promovierten Ökonoms.
Sein erster Roman „Der Schwur der Barbaren“ wurde von der Kritik gefeiert und mit dem Prix du Premier Roman ausgezeichnet.
Als Direktor im algerischen Industrieministerium wurde er jedoch entlassen.In seinem gesamten Werk setzt sich der preisgekrönte Autor auf bisher ungehörte Weise mit der traumatischen Situation in Algerien auseinander. Im Frühjahr 2009 erschien sein Roman „Das Dorf des Deutschen“ in deutscher Übersetzung.
2011 wurde Boualem Sansal mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
Mit 2084 Das Ende der Welt setzt Boualem Sansal seine Auseinandersetzung mit dem Isamlismus fort. Wie der Titel nahelegt, bezieht sich der Roman auf die Orwell-Fiktion 1984 und beinhaltet ebenfalls eine Dystopie, die allerdings im Gegensatz zur Vorlage nicht einen säkularen, sondern einen Gottesstaat in seiner negativsten Form darstellt, als Gebilde der totalen Überwachung. Auch dieser Roman – mit stark satirischem Tonfall – wurde von der Kritik überwiegend positiv aufgenommen; die französische Originalvorlage – 2084 La fin du monde – wurde bereits im Erscheinungsjahr 2015 mit dem Grand prix du roman de l’Académie française ausgezeichnet.
Ressezionen
Christian Aichmayr hat sich eingehend mit dem Buch befasst und präsentiert es in seinem Beitrag.
Vor einigen Wochen ist Boualem Sansals Buch „2084 – Das Ende der Welt“ erschienen, in welchem er ein erschreckendes und zugleich faszinierendes Zukunftsbild beschreibt: In Abistan, Reich der fernen Zukunft, bestimmen die Verehrung eines einzigen Gottes und das Leugnen der Vergangenheit das Herrschaftssystem. Individuelles Denken ist abgeschafft: Eine allgegenwärtige Elite unter der Führung von „Abi dem Entsandten“ steuert sämtliche Abläufe des täglichen Lebens und verhindert abweichendes Verhalten.
Beim Lesen tauchen unwillkürlich Fragen auf: „Wie ist es möglich, Menschen so perfide zu manipulieren, wie ist es möglich, dass Werte einfach umformuliert werden?“
Der Roman erzählt eine fiktive Geschichte … und trotzdem wird spürbar, dass Manches auch von unserem Alltag – gar nicht so weit weg ist!
Boualem Sansal, im Oktober 1949 geboren, ist Ingenieur und Ökonom und war bis zu seiner Entlassung im Frühjahr 1999 Direktor des algerischen Industrieministeriums. In Frankreich, wo Sansal für seine Romane vielfach ausgezeichnet wurde (u. a. Grand Prix du Roman Academie Francaise, Prix du Premier Roman, Prix Louis-Guilloux, Grand Prix RTL-Lire), gilt er als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller. Trotz der kritischen Haltung gegenüber der Regierung und der damit verbundenen persönlichen Gefährdung lebt Sansal noch immer in Algier, ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter.
In einem Interview mit der FAZ meinte er:
Natürlich habe ich viele Feinde in Algerien, nicht nur die Islamisten, auch unter den Machthabern. Aber ich bin Schriftsteller. Als Intellektueller, der darüber schreibt, dass wir für die Demokratie und gegen die Diktatur kämpfen müssen, kann ich mich doch nicht zugleich nach Paris oder Berlin zurückziehen. Ich muss dieselben Risiken eingehen wie die Menschen, die in Algerien leben. Anders geht es nicht. Obwohl ich mich manchmal durchaus bei dem Gedanken erwische: Jetzt geht es nicht mehr, jetzt gehe ich fort.
Und zum Thema Islamismus führt er aus:
Seit Jahren spricht man in Europa von nichts anderem mehr als vom Islamismus. Das ist für mich durchaus eine Form der Okkupation. Der Islam stammt nicht aus Europa, aber europäische Medien, Regierungen, die Sicherheitspolitik – alles dreht sich nur noch darum. Die Islamisten treiben den Westen vor sich her. Sie brauchen gar keine Ministerposten, sie regieren auf ihre Art. Sie erzeugen eine Stimmung der Angst und des Schreckens, um ihre Ziele durchzusetzen. Der Islamismus hat der Menschheit den Krieg erklärt, seine Verfechter wollen die Macht. Weltweit mobilisieren sie Anhänger, und ihnen gegenüber steht – nichts, Leere. Die Demokratien sind schwach. Deshalb werden die Islamisten obsiegen und große Teile der Welt beherrschen. Denken Sie doch nur einmal: Vor zwanzig Jahren gab es sie nicht, und schon heute dominieren sie mehr als dreißig Länder. Und sie gewinnen ständig neue Territorien hinzu, ob in der Sahara, im Irak oder in Syrien. Die Türkei wird von einer islamistischen Partei regiert, Iran, Marokko. Und als Nächstes installieren sie sich in Europa.
Einen spannender Aspekt zur Abrundung: Während Europa überaltert und die Bevölkerung – trotz der Flüchtlingssituation – beständig abnimmt, nimmt die Bevölkerung im islamischen Raum zu. So hatten 22 Staaten im Jahr 1980 insgesamt 150 Millionen Einwohner – im Jahr 2015 war die Bevölkerung in diesen Staaten auf 400 Millionen Einwohner angewachsen!