Der Maghreb – Europas Nachbar vom südlichen Mittelmeerufer
Der Maghreb, das sind die Länder des westlichen Mittelmeers und der „untergehenden Sonne“. Dieser umfasst heute im Kern Marokko, Algerien und Tunesien, im weiteren Sinn auch Libyen und Mauretanien. Spricht man von den zentralen Maghreb, so sind Marokko, Algerien und Tunesien gemeint.
Als „Maghreb“, „Westen“, bezeichneten die arabischen Eroberer des 7. Jahrhunderts die Landmasse zwischen Libyscher Wüste und Atlantischer Küste. Der arabische Begriff leitet sich ab vom „Ort des Sonnenuntergangs“ – in Abgrenzung zum „Maschrek“, dem „Ort des Sonnenaufgangs“ und wurde erstmals im Mittelalter verwendet, um die Gebiete westlich von Ägypten zu benennen. Wie etwa die Arbeiten des 947 in Jerusalem geborenen Geografen Muhammad Ibn Ahmad al-Muqaddasi zeigen, umfasste der Begriff während der islamischen Herrschaft (7. bis 15. Jahrhundert) ebenso Sizilien, die Iberische Halbinsel sowie die Balearischen und Kanarischen Inseln. Dies macht deutlich, dass die Bezeichnung „Maghreb“ ursprünglich nicht die nordafrikanische Küste beziehungsweise die Südküste des Mittelmeers beschrieben hatte, sondern den Westen abgrenzend von der östlichen Levante: dem „Maschrek“; das sind die Länder des östlichen Mittelmeerraums und der „aufgehenden Sonne“: im Einzelnen die Staaten Ägypten, Palästina/Israel, Jordanien, Libanon, Syrien und Irak. Die Kulturen und Eigenheiten des Maghreb unterscheiden sich oft sehr von denen des Maschrek. Geographisch endete der Maschrek der Antike an der ungeheuren Sandmasse des Libyschen Erg. Weder den Ägyptern noch den Assyrern oder den Persern gelang es, ihr Reich oder ihre Kultur darüber hinweg nach Westen vorzuschieben. Nur den Arabern gelang auf ihren Eroberungszügen durch den Maghreb der Vorstoß zum Atlantik. Eine Grenze lässt sich auch kulinarisch ziehen: mit der Verbreitung von Couscous – einem Gericht aus gedämpftem Weizen-, Gerste- oder Hirsegries. Couscous ist die Basis nordafrikanischer Gerichte zwischen dem Atlantik und Libyen sowie dem Mittelmeer und der Sahara. Die libysche Stadt Bengasi grenzt den Maghreb von der Region ab, wo vornehmlich Reis gegessen wird: Ägypten und der Levante.
1. Geographie des Maghreb
Die Fläche des Maghreb beträgt knapp 6 Millionen Quadratkilometer. Naturräumlich umfasst der Maghreb die Atlantikküste von etwa der Höhe der Kapverden bis Gibraltar und die Mittelmeerküste bis zur Großen Syrte mitsamt dem Hinterland.
Die Staaten des Maghreb haben durch ihre geografische Lage viel miteinander gemein: schmale fruchtbare Küstengebiete an Mittelmeer und Atlantik, die vor allem zum Anbau von Getreide, Gemüse, Oliven, Südfrüchten und Wein genutzt werden, semiaride Steppengebiete für Dattelplantagen und Viehzucht, große Wüstengebiete im Süden sowie eine Verbindung durch das Atlasgebirge. Unter Wassermangel und den Auswirkungen des Klimawandels leiden alle fünf Länder. Die großen Rohstoffreserven Phosphat, Eisenerz, Manganerz, Erdöl und Erdgas sind ungleich verteilt: Marokko zählt zu den weltweit größten Phosphatexporteuren, ist jedoch abhängig von Energieimporten. Libyen und Algerien exportieren in großem Maße Erdöl, Algerien auch Erdgas. Tunesien verfügt über Phosphatvorkommen, muss aber ebenfalls Erdöl importieren. Alle Maghreb-Länder verfügen über ein großes Potenzial an Sonnenenergie und teilweise an Windkraft (etwa Marokko), was bislang nur im Ansatz genutzt wird.
Das Atlasgebirge erstreckt sich etwa 2300 Kilometer weit über die Staaten Marokko, Algerien und Tunesien. In der griechischen Mythologie markierte das Atlasgebirge das westliche Ende der damals bekannten Welt.
Seine steilen Gipfel und schroffen Formen, die sich bis in die Schneeregionen erheben, verleihen dem mächtigen Faltengebirge vor allem in seinem westlichen Teil Hochgebirgscharakter.
Hier liegt auch der höchste Berg, der Djebel Toubkal (4167 Meter). Nach Nordosten flacht der Hohe Atlas allmählich gegen Algerien ab, wo er in den Saharaatlas übergeht. Das Gebirge bildet eine klimatisch-markante Scheidelinie: nördlich des Atlas-Gebirges herrscht ein feucht-warmes Klima; südlich davon liegt die extrem trockene Wüste Sahara. Der Großteil der maghrebinischen Bevölkerung lebt nördlich des Atlas-Gebirges und entlang der Mittelmeer- und Atlantikküste.
2. Geschichte des Maghreb
Aufgrund der günstigen strategischen Lage am Mittelmeer, blickt der Maghreb auf eine bewegte Geschichte zurück. Sieben Invasionen musste er standhalten: den Phöniziern, Römern, Vandalen, Byzantinern, Arabern, Türken und Europäern. Die Maghrebstaaten erreichten ihre Unabhängigkeit von 1951 bis 1962 (Libyen Ende 1951; Marokko und Tunesien 1956; Mauretanien 1960; Algerien 1962).
- Fremdherrschaft der Phönizien (15. bis 8. Jh. v. Chr.)
- Herrschaft der Vandalen (429 bis 534)
- Herrschaft der Byzantiner (534 bis 670)
Zuvor hatte die ursprünglich aus Berberstämmen bestehende Bevölkerung des Maghreb Jahrhunderte der Fremdherrschaft erlebt. Diese begann mit den Phöniziern (15. bis 8. Jh. v. Chr.) und führte über die Römer (146 v. Chr. bis 5. Jh. n. Chr.), die Vandalen (429 bis 534), die Byzantiner (534 bis 670) und die Invasion der Araber (ab 670), mit der die Islamisierung der Region einherging, bis hin zum Osmanischen Reich (16 bis 19 Jh.), das vor Marokko allerdings haltmachte, und endete in der Moderne im europäischen Kolonialismus (19 bis 20 Jh.).
In Libyen kostete der italienische Kolonialismus (1911 bis 1951) mehr als der Hälfte der ländlichen Bevölkerung das Leben, in Algerien forderte der Befreiungskampf gegen Frankreich (1954 bis 1962) mehr als ein Million Opfer. Für den heutigen Maghreb ist neben der europäischen Invasion besonders die arabische Eroberung von großer Bedeutung, insofern, als sie die Islamisierung von ganz Nordafrika und die Arabisierung des größten Teils der Berber nach sich zog. Die kolonialen Spuren sind bis in die Gegenwart deutlich sichtbar: an den engen wirtschaftlichen Verflechtungen der maghrebinischen Staaten mit den ehemaligen Kolonial- oder Protektoratsmächten; Frankreich (Algerien, Marokko, Mauretanien), Spanien (Teile Marokkos) und Italien (Libyen) genauso wie an den komplexen kulturellen Verbindungen und dornigen politischen Beziehungen zu diesen Staaten. In den maghrebinischen Kernländern hat der Kolonialismus zu einer bis heute währenden Spaltung in Französisch sprechende Eliten einerseits und Arabisch sprechende Bevölkerungsmehrheiten andererseits geführt. Insbesondere in Algerien, wo es überdies wie in Marokko eine starke Berber-Bewegung gibt, hat dies massive soziale Spannungen und bis heute ungelöste Identitätskonflikte mit sich gebracht. Eine indirekte Folge der Dekolonisierung ist der Konflikt um die Westsahara.
2.1. Islamisierung des Maghreb
Die Gesellschaften des Maghreb bestanden schon vor der islamischen Eroberung aus unterschiedlichen Gruppen wie Berbern und anderen mediterranen und afrikanischen Völkern. Mischehen schufen ein wahres Bevölkerungsmosaik.
Nach zwei Jahrhunderten der Herrschaft germanischer Vandalen und byzantinischer Griechen erfolgte die Islamisierung des Maghreb im 7. Jahrhundert mit der Ankunft von Armeen der arabischen Halbinsel. Man sollte dies jedoch nicht als Chronologie aufeinanderfolgender, siegreicher Zivilisationen interpretieren: Zur Zeit der Punier und der Römer sowie größtenteils in den nachfolgenden Jahrhunderten war der Maghreb in ein mediterranes und transsaharisches Wirtschaftssystem integriert. Historiker haben zudem epochenübergreifende Kontinuitäten nachweisen können: So setzten sich etwa Teile der örtlichen Elite über große geschichtliche Zeitabschnitte hinaus aus denselben Familien zusammen.
- Arabische-Eroberung (ab 670)
- Die Abbasiden (750 -1258)
Nach der arabischen Eroberung breiteten sich Berber und Araber über die iberische Halbinsel aus. Hier entwickelte sich nach dem Zusammenbruch des Omayadenreiches eine eigene, fast 800 Jahre dauernde Hochkultur. Der Maghreb setze seine eigene Geschichte fort und wurde vom östlichen Einfluss aus Bagdad unabhängig. Ein Historiker vertrat die humoristische Meinung, dass die Ausbreitung der arabischen, islamischen Eroberer im 8. Jahrhundert nicht durch die Christen gestoppt wurde, sondern durch die Schweineschmalz-Olivenöl-Grenze, denn der Olivenbaum wächst nördlich der Alpen nicht mehr und das Olivenöl ist für die mediterrane Küche unverzichtbar.
Im Mittelalter wurde der Maghreb von unterschiedlichen Dynastien beherrscht, die bis zum 15. Jahrhundert im engen Zusammenhang mit der Iberischen Halbinsel standen. Die meisten Dynastien waren berberischen Ursprungs – etwa die Almoraviden-Dynastie (11. und 12. Jahrhundert) und die Almohaden-Dynastie (12. und 13. Jahrhundert). Im östlichen Teil der Region herrschten zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert die Hafsiden. Die Herrschaftsgebiete all dieser Dynastien wechselten je nach Bündnissen, Kriegen und dynastischen Nachfolgen. Gleichzeitig gab es einzelne autonome Regionen. Mit dem Verlust der Iberischen Halbinsel 1492 und der spanischen Eroberung verschiedener Hafenstädte im Maghreb fühlte sich die muslimische Herrschaft im Westen bedroht und gliederte sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts in das Osmanische Reich ein. Die Einbindung folgte einer Schutzlogik.
2.2. Der Osmanische Reich
Das Ziel des sich schnell expandierenden Osmanischen Reichs bestand darin, die christliche Expansion im westlichen Mittelmeerraum zu stoppen. Die Expansion bedrohte muslimische Häfen in Nordafrika und damit die Handelsrouten des Nahen Ostens. Die Eliten der maghrebinischen Hafenstädte versprachen sich mit der Aufnahme in das Osmanische Reich Sicherheit und Wohlstand. Als erste Stadt wurde 1516 Algier integriert. Der Integration folgten jahrzehntelange Kämpfe mit der spanischen Flotte. Örtliche Eliten baten den osmanischen Korsar Baba Oruç (in Europa zu „Barbarossa“ verballhornt) für den Verbleib der Stadt im Osmanischen Reich um Hilfe. 1541 war Algier vollständig eingegliedert; 1551 und 1553 folgten die Stadt Tripolis und ihre Provinz sowie das Gebiet der Kyrenaika. 1574 verdrängten die Osmanen die von Spanien unterstützten Hafsiden aus Tunis. Das algerische Oran war bis 1708 und erneut zwischen 1732 und 1792 unter spanischer Besatzung. In Marokko unterstützten die Spanier die Herrschaft der Saadier (zwischen 1554 und 1659), um die Einbindung in das Osmanische Reich zu verhindern. Die Besetzung verschiedener Städte an der Atlantikküste durch die Portugiesen setzte noch früher ein.
Die Repräsentanten des Osmanischen Reichs waren nicht nur Türken, sondern oft auch Albaner, Serben, Georgier, Armenier, Sarden, Sizilianer, Kurden und Griechen. Die Tatsache, dass sie zum Islam konvertierten, löschte ihre komplexen Identitäten und ihre Mehrsprachigkeit keinesfalls aus. Viele Würdenträger des Maghreb wurden in offizieller Mission in andere Provinzen des Reichs entsandt – ob nach Sarajevo oder nach Bagdad. Deshalb kann man beim Osmanischen Reich nicht von einem Kolonialreich sprechen: Die Traditionen der unterschiedlichen ethnischen Gruppen und religiösen Gemeinschaften wurden akzeptiert und Menschen aus allen Winkeln des Reichs in die Verwaltung der Reichsgebiete integriert. Die städtischen Gesellschaften waren noch vielfältiger. Oft setzten sich die Familien aus Ehegatten verschiedenen Ursprungs zusammen und schufen multiple Identitäten wie die sogenannten Kouloughlis: Sie stammten aus Ehen zwischen osmanischen Janitscharen und maghrebinischen Frauen.
Das maghrebinische Hinterland wurde ebenfalls in das Reich eingegliedert. So sicherten die Osmanen die westöstlichen Pilgerrouten nach Jerusalem und Mekka ebenso wie die Nord-Süd-Route zur Sahara. Zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert gab es zudem autonome Regionen, die vom Reich akzeptiert wurden – etwa die örtliche Dynastie der Qaramanli zwischen 1711 und 1835 in Tripolis oder die Dynastie der Muraditen zwischen 1613 und 1705 in Tunis. Diese „Regentschaften“, wie sie in der europäischen Diplomatie genannt wurden, waren ein integraler Bestandteil des Reichs. Sie zahlten Steuern und partizipierten an den Kriegen ebenso wie am Zeremoniell des Osmanischen Reichs.
Die Ortsverwaltung in den Städten wurde an örtliche Würdenträger delegiert. Stadträte setzten sich aus Vertretern der großen muslimischen Familien zusammen – auch der Führer der jüdischen Gemeinde saß im Stadtrat. Die Mitglieder waren für die öffentliche Ordnung und die reguläre Verwaltung auf der Ebene der jeweiligen Nachbarschaft zuständig. Die Verwaltung der Städte bestand daher nicht allein aus der Präsenz eines Gouverneurs und der Reichs- und Zollbeamten sowie einer Janitscharengarnison, sie setzte sich immer auch aus örtlichen Würdenträgern zusammen. Sämtliche Städte des Maghreb haben sich unter der osmanischen Herrschaft erheblich entwickelt: Neue Viertel wurden ebenso gebaut wie neue Märkte und religiöse Gebäude. Tunis, Bengasi, Tripolis, Constantine und Algier waren besonders wohlhabend.
2.3. Der europäische Kolonialismus
Die französische Eroberung des osmanischen Ägypten im Jahre 1798 stellte die westlichen Reichsprovinzen vor eine große Herausforderung. Die territoriale Einheit zwischen dem Nahen Osten und Nordafrika war unterbrochen, und die europäischen Ansprüche auf osmanische Provinzen wurden immer größer. In den 1820er Jahren gingen Frankreich, Großbritannien und Russland militärisch gegen das Osmanische Reich vor und unterstützten die griechische Revolte von 1812, die dadurch in einen Unabhängigkeitskrieg mündete. Der Erfolg, der zur Vertreibung der dort ansässigen nicht-christlichen Bevölkerung führte, bestärkte die europäischen Mächte darin, sich energisch dem Osmanischen Reich entgegenzustellen.
In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts begannen Frankreich und Großbritannien die Privilegien im Maghreb, die europäische Händler und Konsuln mit dem Osmanischen Reich ausgehandelt hatten, für eine Konfrontation zu instrumentalisieren. So weiteten sie den konsularischen Schutz auf größere Bevölkerungskreise aus und richteten Schirmherrschaften und Klientelsysteme mit örtlichen Dynastien und Regionalherrschern ein. Zu den Scharmützeln auf See, die sich osmanische Flotten und Korsaren mit europäischen Mächten lieferten, kamen Drohungen einer militärischen Intervention. Die europäischen Mächte versuchten so, dem Osmanischen Reich neue Handelsregeln zu oktroyieren. Nach der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten und dem Ende der Schutzperiode für amerikanische Schiffe durch die Franzosen kaperten osmanische Korsaren einige dieser Schiffe. Zwischen 1801 und 1805 kam es schließlich zu Angriffen der US-amerikanischen Marine auf Tripolis und Derna und dem sogenannten Amerikanisch-Tripolitanischen Krieg. Anfängliche Handelsstreitigkeiten zwischen Frankreich und Algier entwickelten sich 1830 zu einem territorialen Eroberungskrieg, der jahrzehntelang andauerte und in eine 132 Jahre lange französische Okkupation mündete.
Um die Souveränität Tripolitaniens zu schützen, entließ das Osmanische Reich 1835 die örtliche Dynastie der Qaramanli und errichtete eine osmanische Direktherrschaft. Die Herrschaft der Husainiden in Tunesien kam unter engere Kontrolle und wurde reformiert, um den europäischen Bestrebungen zu begegnen, die Maghreb-Provinzen aus dem Reich zu lösen. Der tunesisch-osmanische Politiker Hayreddin Pasha gehörte zu den aktivsten Reformern: Er erneuerte das Regierungssystem, die Justiz und das Bildungswesen der maghrebinischen Provinzen und setzte zahlreiche Infrastrukturmaßnahmen in Gang. Andere Reformer in Tunis wurden zum Teil von europäischen Konsuln beeinflusst. Zwischen 1850 und 1890 erlebten auch die verbleibenden Provinzen weitreichende Reformen, die unter dem Namen „Tanzimat“ zusammengefasst werden. Dabei wurde der Charakter der Lokalherrschaft innerhalb des Reichs neu ausgehandelt. Von Tunis bis Tripolis und Bengasi entstanden moderne Stadtverwaltungen. Sowohl die koloniale als auch die nationale Geschichtsschreibung minimieren jedoch die Bedeutung dieser Epoche osmanischer Modernisierung. Dabei ist sie bedeutsam für die Interpretation der maghrebinischen Geschichte: Die Modernisierung ist keineswegs ein Konzept, das ausschließlich importiert wurde. So wurden in dieser Zeit neue Methoden der Stadtplanung eingeführt und zahlreiche öffentliche Gebäude und Einrichtungen wie Postämter, weiterbildende Schulen, Kranken- und Waisenhäuser gebaut. Gleichwohl kolonisierte Frankreich Tunesien 1881. Formell setzte sich die Dynastie der Husainiden fort, sämtliche Machtpositionen wurden jedoch von Beamten der französischen Kolonialverwaltung besetzt.
Anders als Tunesien wurde Algerien nicht zum französischen Protektorat, sondern zum integralen Bestandteil des französischen Mutterlands erklärt. Frankreich zwang Algerien die Kolonialherrschaft mit einem blutigen Eroberungskrieg zwischen 1830 und 1847 auf. Der Widerstand des von den Osmanen unterstützten Emirs, Abd el-Kader, und des Regenten von Constantine, Ahmed Bey, konnte nur durch brutales Vorgehen gebrochen werden. Hunderttausende Menschen starben während des Krieges. Algeriens Bevölkerung verlor nahezu den gesamten Besitz und die meisten Bürgerrechte. Französische Siedler wurden von ihrer Regierung dazu ermuntert, sich den Großteil des fruchtbaren Landes anzueignen. Später kamen auch Siedler aus Spanien, Italien und dem verlorenen Elsass. Im Gegensatz zum lange aufrechterhaltenen kolonialen Narrativ gab es zwischen 1830 und 1962 nie eine echte Friedensphase. Die Archive der französischen Armee in Vincennes belegen die regelmäßigen sogenannten Pazifizierungskampagnen gegen den algerischen Widerstand – entweder in der Bergregion der Kabylei oder gegen aufständische Stämme in der Sahara. Die „Pazifizierungskampagnen“ bestanden bisweilen aus Rachefeldzügen gegen die Zivilbevölkerung und wurden während und nach dem Ersten Weltkrieg durchgeführt.
In Marokko wurde die Kolonialherrschaft nach jahrzehntelangem Ringen der europäischen Mächte Spanien, Frankreich und Deutschland etabliert. Spanien errichtete an der Saharaküste die Provinz Rio de Oro und ließ sich auf der Kongokonferenz von 1884/85 die Ansprüche auf die Region bestätigen. Später weitete Spanien seine Besatzung auf die Region Saguia el-Hamra aus. 1905 widersprach Deutschland einem französischen Protektorat über Marokko und damit einer Ausweitung des französischen Kolonialgebiets im Maghreb. Weiter südlich begann Frankreich 1902 mit der Kolonisierung Mauretaniens. Auf der Konferenz in Algeciras teilten sich 1906 Frankreich und Spanien schließlich die Herrschaft über Marokko auf – Spanien erhielt den Norden, Frankreich den Rest des Landes. Ihren Höhepunkt erreichten die Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland 1911. Eine kriegerische Auseinandersetzung konnte jedoch im letzten Augenblick verhindert werden: Am 4. November gestand Deutschland Frankreich freie Hand in Marokko zu und akzeptierte die Kongoterritorien als Kompensation. Das französische Protektorat wurde 1912 errichtet und gemeinsam mit Spaniens Herrschaftsansprüchen im Vertrag von Fès festgeschrieben.
Die Kolonisierung des heutigen Libyen erfolgte nach dem Italienisch-Türkischen Krieg von 1911. Die italienischen Streitkräfte fielen in die drei osmanischen Provinzen Tripolitanien, Kyrenaika und Fezzan ein und errichteten dort die Kolonie Libyen. Auch hier folgte ein langer und blutiger Kolonialkrieg, in dem der libysche Widerstand nicht kapitulierte. Zwischen 1911 und 1922 kontrollierte Italien lediglich einen Teil der Küstenregion. Der Krieg richtete sich vor allem gegen die Zivilbevölkerung – unter dem italienischen Faschismus nahmen die Kriegsverbrechen weiter zu und forderten zigtausende zivile Opfer.
2.4. Die Dekolonisation und die Konstruktion von Nationalstaaten
Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es den Befreiungsbewegungen, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts im Maghreb entstanden, sich der Kolonialherrschaft entgegenzustellen – nun unter der neuen ideologischen Fahne des Nationalismus.
1. Tunesien
In Tunesien hatte die Destur-Bewegung bereits in den 1920er Jahren gegen die französische Besatzung und die anhaltende Rechtlosigkeit der Tunesier protestiert. 1934 gründete Habib Bourguiba mit der Neo-Destur eine Partei, die sich die Unabhängigkeit des Landes zum Ziel machte. Nach einem Jahrzehnt der Repressionen seitens der französischen Armee und Kolonialpolizei kam es 1954 zu Verhandlungen mit der französischen Regierung unter Pierre Mendès France. Die Unabhängigkeit wurde 1956 erreicht. Bourguiba gelang es bald, die Machtstrukturen der Monarchie abzubauen, um 1957 eine Republik auszurufen. Als Präsident herrschte Bourguiba in einem Einparteiensystem bis 1987. Eine seiner ersten Entscheidungen war 1956 die progressive Reform des Familienrechts, mit der die Polygamie abgeschafft und Frauen den Männern formal gleichgestellt wurden. In den 1960er Jahren festigten Bourguiba und die Neo-Destur-Partei – inzwischen umbenannt in Sozialistische Destur-Partei – ihre autoritäre Form der Herrschaft. Nach drei Jahrzehnten sozialer Spannungen und Aufständen setzte 1987 der damalige Premierminister Zine el-Abidine Ben Ali, der unter anderem an der US-Geheimdienstschule in Fort Holabird ausgebildet wurde, in einem unblutigen Putsch Präsident Bourguiba ab und machte sich zu seinem Nachfolger. Sein Regime zeichnete sich zunächst durch eine Öffnung gegenüber den Islamisten aus, nahm jedoch zunehmend diktatorische Züge an. Ben Ali regierte mit harter Hand: Er kontrollierte die Zivilgesellschaft und unterdrückte bis zu seinem Sturz alle oppositionellen Kräfte.
2. Marokko
In Marokko wurde die Partei für Unabhängigkeit 1937 gegründet. 1944 gewann sie die Unterstützung des Sultans Sidi Mohammed ben Yusef. Nach gewaltsamen Auseinandersetzungen begannen die Verhandlungen mit Frankreich über eine Aufhebung des Protektionsvertrags. 1956 konnte die Unabhängigkeit ausgerufen werden. Sidi Mohammed wurde zu König Mohammed V. Als er 1961 starb, übernahm sein Sohn Hassan II. den Thron. Er etablierte ein autoritäres Regime, das die Opposition unterdrückte. Anders als in Bourguibas Tunesien entwickelte sich in Marokko eine konservative Gesellschaft. Das marokkanische Familienrecht von 1956 gestand Männern eine dominante Position zu und erlaubte unter anderem Verstoßungen und Polygamie. Der Sohn Hassans II., Mohammed VI., bestieg 1999 den Thron. Er zeichnete ein kritisches Bild der Regentschaft seines Vaters und ließ eine Wahrheitskommission die Menschenrechtsverletzungen zwischen 1956 und 1999 untersuchen. Trotz der Reformen blieb de facto alle Macht beim König.
3. Algerien
Algerien erlangte erst 1962 die Unabhängigkeit – nach dem weltweit größten und blutigsten Dekolonisationskrieg, der acht Jahre dauerte und viele Menschenleben kostete. 1926 wurde die erste politische Partei Algeriens, der Nordafrikanische Stern, gegründet. Die Partei forderte politische Rechte für alle Algerier, und Messali Hadj wurde ihre prominente Figur. In den 1930er Jahren kämpften militante Nationalisten gegen die brutale und repressive Kolonialherrschaft. 1954 wurde die algerische Befreiungsbewegung Front de Libération Nationale (FLN) gegründet, und es begann der bewaffnete Aufstand gegen die französische Kolonialbesatzung. Im Dekolonisationskrieg wurde die zivile Bevölkerung stark in Mitleidenschaft gezogen: Zu Frankreichs brutaler Kriegführung gehörten Internierungslager, massenhafte Zwangsumsiedlungen und Folter. Nach einem Putschversuch in Algier der französischen Generäle, die den Krieg in Algerien fortsetzen wollten, begann Präsident de Gaulle 1961, mit Algerien zu verhandeln. Mit den Verträgen von Évian erhielt das Land 1962 die Unabhängigkeit. Hunderttausende europäische Siedler, die pieds noirs („Schwarzfüße“), mussten Algerien verlassen. Französische Versuche, die Souveränität über die Sahara aufrechtzuerhalten, um weiterhin die dortigen Ölfelder und Nukleartestgebiete zu kontrollieren, wurden von der internationalen Gemeinschaft abgelehnt. Einmal unabhängig, organisierte sich Algerien als Demokratische Volksrepublik mit Bezügen zum Sozialismus und dem Islam. Die FLN war die einzige politische Partei. Trotz großer Beteiligung von Frauen am Widerstand gegen die koloniale Besatzung blieb die Organisation der Gesellschaft streng patriarchalisch. Das ließ sich auch am 1984 verabschiedeten Familienrecht erkennen, das die Rechte der Frauen massiv einschränkte. Zwischen 1991 und der Jahrtausendwende tobte ein blutiger Bürgerkrieg, der sehr viele Opfer forderte. Dem Krieg waren freie Parlamentswahlen vorausgegangen, in denen die Islamische Heilsfront die Mehrheit errang. Die Armee organisierte einen Staatsstreich und lieferte sich eine kriegerische Auseinandersetzung mit militanten Dschihadisten. Um die Jahrtausendwende erfolgten Prozesse der nationalen Aussöhnung sowie einer begrenzten politischen Öffnung.
4. Libyen
Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten Frankreich und Großbritannien, von der Niederlage der Faschisten zu profitieren und die Kontrolle über Teilgebiete Libyens zu erlangen:Franzosen über Fezzan, Briten über Tripolitanien und die Kyrenaika. 1949 drangen die Vereinten Nationen indes auf eine Unabhängigkeitslösung, die 1951 im Rahmen einer Monarchie zustande kam. Faktisch blieb das Land jedoch unter der Kontrolle Großbritanniens und der USA. 1969 putschte sich Muammar al-Gaddafi gemeinsam mit den „Freien Offizieren“ an die Macht und etablierte in den 1970er und 1980er Jahren ein sozialistisch, islamisch orientiertes Regime. Gaddafi gelang es, die Gewinne aus den Ölquellen des Landes umzuverteilen und einen relativen Wohlstand für die Bevölkerung zu erzielen. Gaddafi unterstützte Nelson Mandelas Kampf gegen die Apartheid und propagierte die Vision einer regionalen Integration Afrikas. Im Süden des Landes tobte in den 1980er Jahren ein Krieg zwischen Frankreich und Milizen der Republik Tschad, die von Libyen unterstützt wurden. Die Beteiligung an terroristischen Aktivitäten führte zwischen 1992 und 2003 zu einem internationalen Embargo gegen Libyen. Der autoritäre Charakter des Regimes verstärkte sich in dieser Zeit. Indem Libyen sich bereit zeigte, eine aktive Rolle beim Aufhalten der Migration über das Mittelmeer einzunehmen, ließen die internationalen Spannungen seit den 2000er Jahren nach.
5. Mauretanien
Mauretanien gehörte seit Beginn des 20. Jahrhunderts zur französischen Kolonie Westafrika und erhielt 1960 seine Unabhängigkeit. Nach dem Ende der spanischen Kolonialherrschaft in der Westsahara teilten sich Marokko und Mauretanien 1975 im Madrider Abkommen die Macht über das Gebiet, was zu einem lang anhaltenden militärischen Konflikt mit der von Algerien unterstützten Befreiungsbewegung Frente Polisario führte. 1979 ließ Mauretanien die Ansprüche auf das Territorium in der Westsahara fallen.
Die Maghreb-Staaten versuchten nach ihrer Unabhängigkeit, zunächst eigene politische Strukturen aufzubauen. Auch wenn die fünf Staaten des Maghreb sprachlich und kulturell viel gemeinsam haben, unterscheiden sie sich politisch und gesellschaftlich stark voneinander. So besitzt jedes Land seine eigene komplexe Geschichte der Nationalstaatsbildung, die geprägt ist von unterschiedlichen Erfahrungen mit der osmanischen Herrschaft, der europäischen Kolonialzeit und des antikolonialen Widerstands. Entsprechend verschieden verliefen die Umbrüche des „Arabischen Frühlings“.
Politisch und institutionell sind die Maghreb-Staaten durch die 1989 gegründete Union des Arabischen Maghreb verbunden, die zum Ziel hat, die intraregionalen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zu intensivieren und die Region zu integrieren – ein Prozess, der seit Jahren nur schleppend vorankommt. Neben dem Westsahara-Konflikt, der Algerien und Marokko seit 1975 entzweit, erschweren ökonomische Probleme, administrative Widerstände und mangelnder politischer Wille die regionale Integration. Alle Maghreb-Staaten sind Mitglied der 1945 gegründeten Arabischen Liga (AL), der Organisation für Islamische Zusammenarbeit, des „5+5 Dialogs“ mit den fünf südeuropäischen Staaten, der 2002 gegründeten Afrikanischen Union (AU) sowie der von der AL initiierten Freihandelszone „Greater Arab Free Trade Area“. Innerhalb dieser Foren treten die Maghreb-Staaten gegenüber Dritten jedoch nur selten mit einer gemeinsamen Stimme auf.
3. Sozioökonomische Herausforderungen
Die Gesamteinwohnerzahl des Maghreb betrug 2014 rund 93,7 Millionen. Davon leben 39,9 Millionen Einwohner in Algerien, 33,5 Millionen in Marokko, 11,1 Millionen in Tunesien, 6,3 Millionen in Libyen und 4,0 Millionen in Mauretanien. Der Anteil 0- bis 24-Jähriger ist mit durchschnittlich 45 bis 50 Prozent sehr hoch. Das ist einerseits positiv, da die Gesellschaften über ein großes Humankapital verfügen und nicht überaltert sind; andererseits belastet die hohe Arbeitslosigkeit von offiziell 10 bis 15 Prozent (verdeckt rund 30 Prozent) alle Maghreb-Länder: insbesondere die hohe Jugendarbeitslosigkeit von durchschnittlich 30 bis 40 Prozent – auch unter Hochschulabsolventen. Das Problem der sogenannten diplômés chômeurs existiert bereits seit den 1980er Jahren, hat sich in den vergangenen Jahren jedoch weiter verschärft. Bis heute wurden keine effizienten Antworten gefunden, notwendige Reformen wurden nicht umgesetzt. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit hält das hohe Protestpotenzial in allen Staaten des Maghreb weiterhin aufrecht.
99% der Bevölkerung sind sunnitische Muslime malekitischer Prägung und praktizieren einen moderaten, konservativen Islam. Sehr kleine jüdische und christliche Gemeinden stellen weniger als ein Prozent der Bevölkerung. Die arabische und berberische Sprache existieren nebeneinander und gelten als die Muttersprachen der maghrebinischen Bevölkerung. Die schon vor der Eroberung ansässigen Berber sind zumeist Muslime, wurden aber nur teilweise arabisiert und haben einen der zahlreichen Berberdialekte als Muttersprache. Berber-Sprecher stellen gegenwärtig etwa 25% aller Maghrebiner. Die meisten anderen Maghrebiner sprechen einen der untereinander ähnlichen maghrebinischen Dialekte (Arabische Sprache). Doch Arabisch verbindet als erste Amtssprache die Gesellschaften sprachlich und kulturell. Seit der Kolonialzeit ist auch das Französische, weniger das Spanische und Italienische, verbreitet und wird als Verkehrssprache benutzt. In den Bildungseinrichtungen, Ämtern, Medien und sonstigen offiziellen Angelegenheiten wird Hoch-Arabisch verwendet. Seit der offiziellen Anerkennung des Berberischen als Nationalsprache werden auch die Berbersprache in den Medien eingesetzt und den Bildungseinrichtungen gelehrt. Die französische Sprache genießt einen hohen Stellenwert, ist als Handels-, Bildungs- und Kultursprache von großer Bedeutung und wird insbesondere im höheren Schulwesen, an Universitäten und als Korrespondenzsprache verwendet.
Bezüglich der allgemeinen Entwicklung haben die Maghreb-Staaten in den vergangenen Jahrzehnten erheblich aufgeholt. Graduelle Unterschiede gibt es zwischen den Energieexporteuren Algerien und Libyen, die weiterhin vor allem von den Öl- und Gas-Renten leben und den Energieimporteuren Marokko, Tunesien und Mauretanien, die verschuldet und von internationaler Unterstützung abhängig sind. Trotz allgemeinem Aufwärtstrend bestehen nach wie vor Entwicklungsdefizite: Armut, Landflucht, unkontrollierte Urbanisierung, schlechte Bildung und Gesundheitsversorgung, nicht gesicherter Zugang zu Wasser, Ungleichheit der Geschlechter – etwa beim Zugang zum Arbeitsmarkt und Löhnen – sowie soziale und interregionale Ungleichheit führen in den benachteiligen Regionen häufig zu Protesten. In allen Staaten lag die Alphabetisierungsrate der über 15-Jährigen 2014 vergleichsweise niedrig: in Libyen bei rund 90 Prozent, in Tunesien bei 80 Prozent, in Algerien bei 73 Prozent, in Marokko bei 67 Prozent und in Mauretanien bei lediglich 46 Prozent. In den vergangenen Jahrzehnten wurde zwar viel in die Quantität der Bildung investiert, weniger aber in die Qualität. Die Zahl derer ist hoch, die trotz Schul-, Ausbildungs- oder Studienabschluss nicht den Bedürfnissen der Arbeitsmärkte entsprechen; ebenso die Zahl junger Menschen, die sich außerhalb des Bildungssystems aufhalten und weder in der Schule, der Ausbildung oder im Studium sind. In Algerien wird hier von rund 21 Prozent der 15- bis 24-Jährigen ausgegangen, in Tunesien von rund 25 Prozent und in Libyen sogar von 48 Prozent. Für Marokko und Mauretanien liegen keine Zahlen vor, aber Schätzungen zufolge handelt es sich um rund 20 Prozent der Jugendlichen. Es sind oft diese jungen Menschen, die keine Zukunft in ihrem Land sehen und als resignierte Hittistes („diejenigen, die an der Wand lehnen“) keinen Platz in der Gesellschaft finden; oder sich als Harragas („diejenigen, die ihre Papiere verbrennen“) in der Hoffnung auf ein besseres Leben auf den gefährlichen Weg nach Europa machen. Viele leiden auch unter den Auswirkungen der Korruption, die im Alltag, in der Wirtschaft, der Politik und der Verwaltung weitverbreitet ist. Arbeitsplätze werden oft nicht nach Leistung oder Kompetenz vergeben, sondern durch klientelistische Netzwerke. Willkürliche Strafen oder Erniedrigung durch Polizei oder Sicherheitskräfte ersticken Eigeninitiativen oft im Keim und provozieren entweder Gegengewalt, Protest oder Resignation.
In allen Staaten bis auf Libyen sind die gesellschaftlichen Institutionen weitgehend europäisiert. Das Bildungswesen z. B. orientiert sich seit der Kolonialzeit am französischen Vorbild. Viele Maghrebiner, besonders auf dem Land, folgen zwar weitgehend traditionellen Werten, die meisten gebildeten Stadtbewohner der Mittel- und Oberschichten pflegen aber einen weitgehend westlich geprägten Lebensstil und orientieren sich auch kulturell an Europa bzw. Amerika. Bemerkenswert ist z. B. die frankophone Literatur, die ihr Publikum zum Teil in Frankreich suchen. In der Musik versucht der Rai eine Verbindung von westlichem Pop mit traditioneller arab. Musik. Aufgrund ökonomischer Probleme sowie einer rapiden Bevölkerungszunahme existiert eine bedeutende Migration nach Europa, Kanada und in die USA.
Im Maghreb fehlen Auslandsinvestitionen und substanzielle Strukturreformen, die neue Industriezweige ausbauen und ausreichend Arbeitsplätze schaffen. Als Folge der seit Jahren anhaltenden Arbeitslosigkeit hat Arbeitsmigration in allen Maghreb-Staaten eine lange Tradition. Sie wird von den Regierungen zugelassen beziehungsweise unterstützt, um die nationalen Arbeitsmärkte zu entlasten. Gleichzeitig gehen durch den Braindrain viele Talente verloren. Die Rücküberweisungen sind für alle Staaten ein wichtiger ökonomischer Faktor. Eine intensivierte regionale Integration könnte die Maghreb-Region ökonomisch und entwicklungspolitisch voranbringen. Die Kosten der fehlenden Integration werden seit Jahren immer wieder diskutiert und reduzieren Schätzungen zufolge das Wirtschaftswachstum um zwei Prozent. Gleichzeitig besteht über informellen Austausch durchaus reger Handel. Transregionale Infrastrukturprojekte im Straßen- und Eisenbahnbau, wie die 4000 Kilometer lange Trans-Maghreb-Autobahn, sollen Handel und Personenverkehr erleichtern. Zu weiten Teilen fertiggestellt, scheitert die vollständige Umsetzung bislang an der geschlossenen Grenze zwischen Algerien und Marokko, aber auch an fehlender Finanzierung für einzelne Teilstrecken.
4. Arabischer Frühling
2010 erlebte Tunesien eine Reihe von Protesten. Forderungen einzelner sozialer Bewegungen gegen die Diktatur, entwickelten sich in der Hauptstadt zu massiven Revolten und führten schließlich am 14. Januar 2011 zum Sturz Ben Alis. Es folgte eine Phase intensiver politischer Debatten. Die konservative islamistische Ennahda-Partei gewann zunächst im Oktober 2011 die Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung, verlor 2014 aber bei den Parlamentswahlen die Mehrheit.
Marokko und Algerien waren nicht unmittelbar vom „Arabischen Frühling“ betroffen: im Fall Marokkos aufgrund der Besonderheiten der Monarchie und des Sicherheitsapparats – in Algerien nicht zuletzt aufgrund der Erinnerung an den blutigen Bürgerkrieg. Gleichzeitig wurde vieles von dem, was seit 2011 im politischen Leben beider Länder geschah, indirekt vom „Arabischen Frühling“ beeinflusst. Von der Stadt Bengasi gingen im Februar 2011 zunächst friedliche Proteste gegen das diktatorische Regime in Libyen aus. Doch schon bald verwandelten militante Dschihadisten die Proteste in einen Krieg. Mit militärischer Unterstützung der NATO wurde das Regime im August 2011 gestürzt. In der Folge versank das Land im Chaos und drohte zu zerfallen, da verschiedene militante Gruppen einzelne Regionen kontrollierten.
Heute, fünf Jahre nach dem „Arabischen Frühling“, befindet sich der Maghreb an einem Wendepunkt seiner Geschichte. Radikaler Islamismus, Terroranschläge, kriegerische Konflikte, hohe Jugendarbeitslosigkeit und verstärkte Migration fordern die Gesellschaften heraus. Trotz Problemen und Krisen darf die Beziehung der Maghreb-Staaten zu Europa jedoch nicht nur auf die Rolle beschränkt werden, die von ihnen bei der Kontrolle der Migrationswege eingenommen wird. Derzeit sterben jedes Jahr zigtausende von Menschen auf diesen Wegen – ob in der Sahara oder vor der Küste des Maghreb.
5. Migration aus dem Maghreb
Die Migration aus dem Maghreb in Richtung Europa begann zum großen Teil nach dem Zweiten Weltkrieg. Viele Algerier kamen während des algerischen Befreiungskrieges (1954-1962) und nach der Unabhängigkeit Algeriens im Jahr 1962 sowie während der Tragödie der 90er Jahre und danach. Ab 1963 kamen verstärkt Arbeitskräfte aus dem Maghreb im Rahmen des Abkommens zur Anwerbung von Arbeitskräfte mit Marokko (1963) und Tunesien (1965) nach Deutschland. In Europa leben ca. 8 Millionen Menschen darunter ca. 300.000 in Deutschland mit maghrebinischem Migrationshintergrund bereits in zweiter, dritter oder vierter Generation. Die Menschen mit maghrebinischem Migrationshintergrund machen ca. 3% der in Deutschland lebenden ausländischen Bevölkerung aus. Diese Bevölkerungsgruppen werden in der Öffentlichkeit aber überproportional stark wahrgenommen, seit Marokko, Algerien und Tunesien 2016 in der deutschen Öffentlichkeit immer wieder in den Negativschlagzeilen waren. Die Reduzierung der Länder im Maghreb auf ihre Rolle als Herkunftsländer von Geflüchteten und von Migranten wird den Gesellschaften in den Maghreb als auch den hier in Deutschland lebenden Menschen mit maghrebinischem Migrationshintergrund nicht gerecht. Europa und den Maghreb verbinden nicht nur das Mittelmeer und seine lange Geschichte des kulturellen Austauschs, sondern auch ähnliche gesellschaftliche Fragen und Debatten. Der Wunsch nach Wohlstand und gesellschaftlicher Teilhabe, die Rolle der Frau, Perspektiven für die Jugend und die Gefahren von Radikalisierung und Terrorismus werden auch in Marokko, Algerien, Tunesien und Libyen diskutiert. Die Gesellschaften in diesen Ländern sind im Umbruch, und das nicht erst seit den Protestbewegungen und politischen Veränderungen des „Arabischen Frühlings“ vor fünf Jahren.Hier in Deuschland leben mit uns die Menschen mit maghrebinischem Migrationshintergrund als Arbeitnehmer oder Selbständige, als Kaufleute, Sportler, Studenten oder Wissenschaftler und fühlen sich völlig integriert in der deutschen Gesellschaft, leisten einen fundamentalen Beitrag für die Zukunft der Beziehungen zwischen Deutschland und dem Maghreb und sind in der Lage, solide wirtschaftliche und kulturelle Brücken zwischen Deutschland und dem Maghreb zu bauen.Aufgrund seiner eindeutigen islamisch-arabischen Prägung sowie seiner historischen und geographischen Nähe zu Europa nimmt der Maghreb eine Sonderstellung ein. Für die abendländliche Kultur gibt es weit mehr Verbindendes als Trennendes zu den Ländern des Maghreb, weshalb Europa auf die mittelmeerische Gegenküste nicht verzichten kann. Europa und Deutschland können die Entwicklung des Maghreb positiv beeinflussen. Ein regional besser integrierter Maghreb bringt nicht nur ökonomische, politische und geostrategische Vorteile für die Region mit, sondern ermöglicht auch eine politische Brücke über die Straße von Gibraltar mit Europa zu schlagen.
Doch diese Brücke wird nicht aus Beton und Stahl sein, sondern Menschen werden sie bilden. Aus diesem Grund sind die Beziehungen, welche die maghrebinische Migration seit mehreren Jahrzehnten zwischen den in den Maghreb und Deutschland lebenden Menschen aufgebaut hat, ein wichtiger und unersetzlicher Beitrag für die Gestaltung der Zukunft unserer europäisch-maghrebinischen, insbesondere deutsch-maghrebinischen Beziehungen.
Quellen:
- www.bpb.de – Historische Perspektiven auf den Maghreb – Nora Lafi
- www.bpb.de – Der Maghreb vor neuen Herausforderungen. Sicherheit, Entwicklung, Migration. Isabel Schäfer
- wikipedia.org