Märchenreihe Maghreb #16 – Hachachi der Lügner
Jeden Freitag stellt uns der Geschichtenerzähler und Autor Naceur-Charles Aceval ein Märchen aus seinen Büchern vor und entführt uns mit seinen Geschichten und Weisheiten in die Märchenwelt des Maghreb.
„Menschen kommen, Menschen gehen! Allein das Wort reist und bleibt und erreicht immer sein Ziel.“ so fangen immer die Erzählungen von Naceur-Charles Aceval an, welche der Erzähler direkt aus dem Mund seiner Mutter gehört und die ihn von Kindheit an tief geprägt haben. Es sind die Geschichten und Märchen aus der Welt der Nomaden und dem Nomadenzelt seiner Kindheitstage und Vorfahren in den Hochebenen Algeriens, zwischen Meer und Wüste, zwischen Nomaden und Seßhaften, die direkt aus der mündlichen Erzähltradition des Maghreb entstammen.
Hachachi der Lügner
Aus dem Buch „Der Erzähler von Algier“, Oktober 2017, Papermoon-Verlag. Kostet 15,00€, Bestellung direkt bei Naceur-Charles Aceval.
In der algerischen Wüste, im Schatten großer, schlanker, grüner Palmen, lag die weiße Stadt, umgeben von einer weißen Mauer. In dieser Stadt lebte ein einfacher und armer Mann mit dem Namen Hachachi. Dieser war so bekannt wie der König – die Stadt besaß tatsächlich einen König – aber Hachachi war beliebter als dieser, denn er war eine Art Künstler, eine Art König der Worte, auch wenn er lustig aussah. Man sah seine dünnen Beinchen durch seinen viel zu kurz geratenen Umhang. Er hatte eine Hakennase, sein Bart bestand aus drei langen Härchen, er trug eine rote Mütze und einen Stock in der Hand. Wenn Hachachi seine Hütte verließ, wartete draußen eine Schar von Kindern, Bettlern, Landstreichern und sonstigen Menschen, die nichts zu tun hatten. Wenn er durch die Stadt ging, liefen alle hinter ihm her. Wenn er stehen blieb, blieben alle stehen. Wenn er sich umdrehte, nahm jeder Platz, wo er konnte – auf der nackten Erde, auf einem Baum oder einem Stein. Denn nun kam die Erzählstunde dieses einfachen, aber begnadeten Erzählers. Hachachi erzählte selbst erfundene Geschichten von fernen Städten und Ländern, die er niemals gesehen hatte, denn in dreißig Lebensjahren hatte er noch nie die Stadt verlassen. Er erzählte, wie er mit bloßen Händen wilde Tiere und Ungeheuer umgebracht hatte. Wenn er seinen Stock schwang, erzählte er von Armeen, die er mit seinem Schwert vernichtet hatte. Die Kinder glaubten Hachachis Erzählungen. Bei den Erwachsenen war man geteilter Meinung – die eine Hälfte zweifelte, und die andere glaubte ihm kein Wort. Aber jeder blieb sitzen und hörte ihm zu, denn es entstanden Bilder, wenn Hachachi erzählte. Es war eine Zeit außerhalb der Zeit, eine Zeit voller Zauber und Magie.
Alles wäre in der weißen Stadt friedlich und in Ordnung gewesen, wenn sich nicht eines Tages ein riesiger Löwe vor den Toren der Stadt niedergelassen hätte. Er zerfleischte zwei magere Kühe und einen kleinen Esel. Er griff Karawanen an, die in die Stadt kamen oder diese verlassen wollten.
So blieben die Tore der Stadt geschlossen. Jeder weiß, dass eine Stadt oder ein Land zu ersticken droht, wenn die Tore oder Grenzen geschlossen bleiben. Unruhe verbreitete sich auch in dieser Stadt. Stimmen wurden lauter, und man fragte den König um Rat. Dieser wusste schon von der schwierigen Lage und schickte, ohne zu zögern, seinen Ausrufer mit folgender Botschaft durch alle Straßen und Gassen:
„Hört, hört, ihr Männer, derjenige, der uns von diesem Ungeheuer befreit, bekommt eine Kiste voll Gold, hört, hört…“
Niemand rührte sich, keiner wollte sein Leben auf´s Spiel setzen.
Als die Stimmen noch lauter wurden, sendete der König erneut seinen Ausrufer mit folgender Botschaft in die Stadt:
„Hört, hört, ihr Männer außer der Kiste Gold bekommt der Retter die einzige Tochter des Königs, Badr el Budur, der Mond aller Monde, zur Frau.“
Daraufhin sattelten junge Männer, weniger junge Männer, sogar alte Männer ihre Pferde, wetzten ihre Schwerter und verließen die Stadt mit Musik. Schnell machte man hinter ihnen die Tore zu. Kurz darauf konnte man Geschrei und Gebrüll hören. Es dauerte Stunden, dann war alles still. Die Menschen schauten vorsichtig über die Mauer und sahen in der Dämmerung nur noch ein einziges Pferd, das vor den Toren der Stadt zusammenbrach und verblutete. Das Ungeheuer hatte die stärksten und fähigsten Männer der Stadt vernichtet. Drei Tage und drei Nächte wurde getrauert.
Der König dachte lange nach. Schließlich hatte er eine Idee, und er sprach:
„Wir haben doch noch einen Helden in der Stadt, Hachachi , holt mir Hachachi her.“
Der König, hatte den Geschichten Hachachis niemals geglaubt, war aber überaus neidisch auf den Erzähler, da dieser bei der Bevölkerung so beliebt war. Nun würde er endlich in der Gefahr umkommen. Man holte Hachachi, und oben in seinem Thronsaal sprach der König mit Nachdruck:
„Hachachi, du bist ein Held. Geh und töte dieses Ungeheuer. Für dich ist es doch ein Kinderspiel! Wenn nicht, verlierst du deinen Kopf!“
„Ja, mein König“, antwotete Hachachi mit zitternder Stimme. Draußen warteten schon die Kinder und riefen:
„Hachachi, unser Held, Hachachi unser Held!“
Er aber ging still in seine Hütte, schloss die Tür und sagte sich:
„Das habe ich jetzt von meinen vielen Erzählungen. Was mache ich nur? Wenn ich hier bleibe, wird mich der König umbringen lassen. Wenn ich hinausgehe, wartet das Ungeheuer. Aber vielleicht habe ich draußen Glück. Vielleicht schläft der Löwe oder übersieht mich. Und wenn ich hinausgehe, habe ich die Möglichkeit, eine andere Stadt zu finden mit einem anderen König, der mehr Herz hat als dieser.“
Bevor Hachachi sich auf den Weg machte, bereitete er seine alltägliche Lieblingsspeise zu- Fleischbällchen mit Haschisch, ja, daher auch der Name Hachachi. Diese Speise hatte ihm immer beim Erzählen geholfen. Er bereitete zwölf Fleischbällchen zu, wickelte sie in ein Tuch und befestigte sie an seinem Stock. Dann verließ er die Stadt. Hinter ihm schloss man schnell die Tore. Aber kaum war er zwei, drei Schritte gegangen, da näherte sich schon der Löwe. Hachachi erstarrte einen Augenblick und dachte:
„Oh Gott, sieht so ein Löwe aus?“
Dieser aber schaute Hachachi enttäuscht an und dachte:
„Hat die Stadt nichts schmackhafteres anzubieten? Aber besser als nichts.“
Angst verleiht bekanntlich Flügel. Im Nu war Hachachi hoch oben auf der einzigen Palme, die es weit und breit zu sehen gab. Der Löwe kam heran, rieb langsam seinen Rücken am Baumstamm, legte sich unter die Palme und wartete. Er hatte viel Zeit.
Eine Stunde verstrich, zwei Stunden. Hachachi wurde langsam müde und sagte sich:
„Was soll ich nur tun? Wenn ich hier oben bleibe, schlafe ich ein und falle wie eine reife Dattel in das Maul des Löwen.“
Aber nach langem Nachdenken kam Hachachi auf die Idee dem Löwen seine Fleischbällchen zu geben. Vielleicht würden sie ihm schmecken. Erwartungsvoll warf er ein Fleischbällchen hinunter und traf den Löwen mitten auf die Schnauze. Dieser schnupperte zunächst vorsichtig daran, verschlang es aber dann im Nu. Nach und nach warf Hachachi alle zwölf Fleischbällchen vom Baum hinunter, und der Löwe fraß sie gierig auf. Danach, berauscht vom Haschisch, machte er einige schwankende Schritte, riss beim Gähnen das Maul weit auf, fiel mit dem Kopf in den Sand, das Hinterteil nach oben, und schnarchte so laut, dass ein Sandwirbel entstand. Die Menschen in der Stadt hörten alles und sahen dieses Schauspiel voller Staunen. Die Kinder riefen:
„Der Kampf hat begonnen, der Kampf hat begonnen!“
Hachachi stieg vom Baum herunter und hatte eigentlich vor, unbemerkt zu fliehen. Doch plötzlich sagte er sich:
„Das ist die Chance meines Lebens!“
Flink wie er war, sprang er auf den Rücken des Löwen. Mit der linken Hand hielt er sich an der Mähne fest, und mit dem Stock in der rechten führte er den Löwen so, wie man einen Esel führt, in Richtung Stadt. Über die Stadtmauer hinweg riefen die Kinder:
„Wir haben es gewusst, dass unser Hachachi siegt, wir haben es gewusst!“ Die Hälfte der Menschen, die gezweifelt hatte, war bereits bekehrt und die andere Hälfte, die kein Wort geglaubt hatte, sagte: „ Da muss doch Hexerei im Spiel sein, das ist doch Zauberei!“
Was man auch immer gedacht oder gesagt hatte, die Tore wurden geöffnet, und man stellte einen Käfig auf. Der Löwe wurde hineingeführt und der Käfig schnell verschlossen .Aber natürlich hatte man Hachachi vorher herausgeholt.
Sieben Tage und sieben Nächte feierte die Stadt den Sieg Hachachis über den Löwen. Man feierte die Befreiung von diesem Ungeheuer. Nun musste der König sein Versprechen halten. Die Goldkiste an Hachachi abzugeben, war für ihn ein leichtes. Aber es fiel ihm schwer, seine Tochter, die schöne Prinzessin Badr el Budur, Hachachi zur Frau zu geben. Jedoch hatte er keine andere Wahl. Denn in dieser Stadt galt:
Ein Mann, ein Wort.
Später erzählte man sich folgendes: Nach der Hochzeitsnacht betrat Hachachi die Terrasse berauscht, nicht vom Haschisch, sondern von der Liebesnacht, und er erzählte so gut wie noch nie von seinem Kampf mit dem Löwen – so gut, dass sich die Worte in Bilder verwandelten und auf der Außenmauer der Stadt haften blieben. Man sagte ferner, wenn es nicht übertrieben ist, dass die Sonne vor dem Fenster des Palastes stehen blieb, um die Geschichte von Hachachi zu hören. Drei Tage und drei Nächte vergaß sie, ihre Laufbahn fortzusetzen.
Liebe Leser, wenn jemand von euch eines Tages in die algerische Wüste kommt und die weiße Stadt findet, an deren Außenmauer Bilder haften, soll er, muss er sogar in die Stadt gehen. Dort leben die Nachkommen von Hachachi – alle wunderbare Erzähler.